Hamburg (dpa/tmn) – Ein Rucksack, ein Zelt, ein Interrail-Ticket – mehr brauchte Tom Steinbrecher 1983 nicht für seine Sommerreise.
Ohne jegliche Vorreservierung nahm er, damals Student, den Nachtzug von Hamburg nach Paris. Er schob zwei Sitze in einem leeren Abteil zusammen und ließ sich vom Rattern des Zuges in den Schlaf wiegen.
Kostenfrei übernachten und gleichzeitig vorankommen, das sei eine ideale Kombination gewesen, sagt er rückblickend. Und so behielt er es bei: Tagsüber lief er sich in der französischen Hauptstadt müde, nachts ruhte er im bummeligen Regionalzug gen Bordeaux.
Als es ein paar Tage später an der Atlantikküste zu regnen anfing, zog der Backpacker weiter – mit dem nächstbesten Zug zum Mittelmeer. So sah sie aus, die große Reisefreiheit mit Anfang 20!
Rabatt für Ältere
Knapp 40 Jahre später hat es Tom Steinbrecher erneut getan: Er hat den Rucksack gepackt, wenn auch ohne Campingausrüstung, und einen Interrail-Pass gekauft, wenn auch rein digital.
Den gibt es mit einer zehnprozentigen Ermäßigung auf den Erwachsenentarif «für alle jung gebliebenen Interrailer:innen ab 60 Jahren», wie es die Deutsche Bahn schreibt.
Jung geblieben… Der 61-Jährige fühlte sich angesprochen und klickte sich durch die Angebotspalette.
Den länderübergreifenden Pass für einen Monat, den er im Kopf hatte, gibt es zwar immer noch, aber er kostet selbst für Senioren 633 Euro. Zu viel für das, was Steinbrecher vorhatte: einen eher kleinen Trip. Erst nach Österreich, weiter nach Italien – und innerhalb von drei Wochen wieder zurück.
Immerhin: Verteilt auf vier Reisetage entsprach das exakt der kleinsten und preisgünstigsten Kategorie beim Interrail Global Pass, «4 Tage innerhalb von 1 Monat». Kostenpunkt: 232 Euro.
Die Tücken des Digitalen
Bei der Anwendung fühlte sich Steinbrecher dann aber ein wenig als «Digital Immigrant» – und im Stich gelassen: Für die Übertragung des Passes auf die dazugehörige mobile «Rail Planner App» von Interrail benötigte er die Hilfe seiner Kinder, die es damit als «Digital Natives» deutlicher einfacher hatten.
Und später auch das: Gleich zur Premiere bei der ersten Fahrkartenkontrolle im ICE versagte das Netz, erzählt Steinbrecher. Der mobile Pass, der auch offline funktioniert, nützte da wenig – der Schaffner verlangte nach einem QR-Code. Seine Erkenntnis: «Ich hätte mich vor der Abreise intensiver mit der App beschäftigen sollen.
Dann hätte er vermutlich auch herausgefunden, wie man damit Sitzplätze reserviert, statt sie einzeln vorab bei den Bahngesellschaften zu buchen und jeweils im Papierformat auszudrucken. Ein Prozedere, mit dem er sich vor 40 Jahren so gar nicht herumschlagen musste.
Die Freiheit ist einem komplizierten System gewichen
Von der großen Freiheit und Flexibilität schwärmen Interrailer der ersten Stunde noch immer. Wohl wissend, dass das längst vorbei ist: Nachtzüge etwa benötigen inzwischen stets eine Reservierung. Viele wurden ganz aus dem Fahrplan gestrichen.
Wozu sich auch die Nacht im rumpelnden Waggon um die Ohren hauen, wenn der Hochgeschwindigkeitszug TGV für die Strecke von Paris nach Bordeaux nur noch zwei Stunden braucht?
So eine Geschwindigkeit hat aber auch ihren Preis: Eine Sitzplatzreservierung ist im TGV vorgeschrieben und kann bei hoher Nachfrage pro Fahrt bis zu 20 Euro kosten.
Je gefragter eine Verbindung ist, umso geringer sind die Chancen, als Interrailer einzusteigen. Ab und nach Frankreich sind die Kontingente für Passinhaber teilweise limitiert. Auch in Spanien und Italien werden Aufpreise fällig.
Für Interrailer bedeutet das: Früh buchen, Zusatzgebühren einplanen und sich in das komplizierte System der Reservierungen einarbeiten.
«Das ist lästig», findet Wolfgang Strasdas, Seniornutzer bei Interrail und beruflich Professor für nachhaltigen Tourismus. Für die Buchung von Verbindungen durch Frankreich und Spanien beauftragte er ein spezialisiertes Reisebüro. «Aber das macht es teurer», sagt der 65-Jährige. Die Sitzplatzkontingente für Passinhaber könnten dazu führen, dass diese etwa auf dem Weg nach London auf der Strecke blieben, obwohl im Eurostar-Zug noch Plätze frei seien.
Das Interrail-Feeling von früher gibt es noch
Insgesamt unterstreicht Strasdas aber die Vorzüge des Angebotes: «Der große Vorteil ist, dass ich unterschiedliche Bahngesellschaften und ihre Verbindungen auf einem Portal durchsuchen und mit einer Fahrkarte nutzen kann.»
Schon als Jugendlicher reiste Strasdas mit dem Interrail-Pass bis nach Marokko. Dafür benötigte er 60 Stunden und ein dickes Kursbuch, mit dem er die besten Verbindungen heraussuchte. Heute könnte man die Strecke in halber Zeit schaffen, der Komfort wäre höher, das Kursbuch virtuell – nur ist Marokko nicht mehr im Interrail-Pass enthalten.
Dafür sind die Länder Osteuropas hinzugekommen, und zwischen Istanbul und Bulgarien könne man noch das Interrail-Feeling von früher erleben, sagt Strasdas.
«Reisen dauern nun einmal, das Landschaftsbild verändert sich und anders als bei Flugreisen bekommt man das im Zug mit», sagt der Fachmann für nachhaltigen Tourismus, der «Klimaschutz auf der Mittelstrecke» propagiert.
Entschleunigt reisen
Auf halber Strecke anhalten, sich umschauen und damit das Unterwegssein zum Teil des Urlaubs machen, das bietet sich gerade für Ruheständler eigentlich an. Sofern sie nicht auf ländliche Regionen aus sind. Grund: «Abseits der Hochgeschwindigkeitsstrecken sind die Bahnangebote meist extrem schlecht – deutlich schlechter als in Deutschland», sagt Strasdas mit Blick auf Europa.
Zwar fahren immer noch weit überwiegend junge Menschen mit Interrail: Doch immerhin: Der Anteil der Über-60-Jährigen unter den Nutzerinnen und Nutzern lag 2021 bei acht Prozent. Einer Bahnsprecherin zufolge rechnet man mit einer steigenden Nachfrage.
Auch Tom Steinbrecher ist nicht abgeneigt, nach seinem Revival nach 40 Jahren noch ein weiteres Mal einen Interrail-Pass zu buchen. Am liebsten aber ohne irgendwelche verdeckten Nebenkosten.
Dazu schildert er eine Episode aus dem Eurocity von Bozen nach München. Dort kassierte der Schaffner einen Aufpreis für Interrail von zehn Euro, trotz gültiger Sitzplatzreservierung. Zurecht, denn es gibt Züge, wo Sonderzuschläge fällig werden. Diese Verbindung über den Brenner zählt dazu.
Doch es bestätigt den Eindruck: Kreuz und quer durch Europa mit einem Interrail-Pass zu einem Preis reisen – oft klappt das nicht mehr.
Info-Kasten: Interrail
Diverse Eisenbahngesellschaften in 33 Ländern nehmen am Interrail-Programm teil, darunter die Deutsche Bahn, Renfe in Spanien oder SBB in der Schweiz. Nicht dabei sind Albanien, Andorra, Belarus, Island, Kasachstan, Kosovo, Malta, Moldau, Russland, Ukraine.
Die Kundengruppen im Jahr 2021 waren: 64 Prozent junge Reisende unter 28 Jahre, 28 Prozent Reisende zwischen 28 und 60 Jahre sowie Kinder unter zwölf Jahre und acht Prozent Senioren über 60 Jahre.
Der Preis richtet sich nach Geltungsdauer, Zahl der Reisetage, etwaiger Nutzung der 1. Klasse und dem Alter: Reisende unter 28 und über 60 Jahre bekommen Rabatt, alle unter zwölf fahren kostenlos.