Boltenhagen (dpa) – In deutschen Supermärkten finden sich zwar Garnelen aus vietnamesischer Aquakultur, aber weder Hering noch Dorsch von der deutschen Ostseeküste. Die einstigen «Brotfische», die wesentlich den Lebensunterhalt hiesiger Fischer sicherten, sind längst zu Exoten im Handel geworden. Daran dürften auch die Entscheidungen auf EU-Ebene über Höchstfangmengen kommende Woche nichts ändern – jedenfalls vorläufig nicht. Längerfristig könnte aber etwa der Hering der westlichen Ostsee sein Exotendasein überwinden.
Bis dahin kriegen ihn Fisch-Fans, wenn überhaupt, in Küstennähe beziehungsweise direkt an der Kaikante wie bei Hendrik Kern in Boltenhagen bei Wismar. Der 34-Jährige fischt, seitdem er 16 ist – in fünfter Generation. Er gehört zu einer aussterbenden Zunft. Dennoch sagt er, ihm gehe es gut. «Ich kann mich nicht beschweren, weil ich nur Eigenvermarktung mache.»
Was er mit seinem kleinen Stellnetzkutter fängt, verkauft er direkt an den Endkunden. Kern fängt unter anderem Plattfische, denen es vergleichsweise gut geht, darunter Scholle oder unquotierte Arten wie Flunder, Kliesche oder Steinbutt. Hinzu kommen etwa Hornhecht und Seehase. Beim Hering ist auch er von drastischen Fangbeschränkungen betroffen. Er dürfe in diesem Jahr noch 100 Kilogramm Hering fangen. Vor zehn Jahren sei es in etwa 100 Mal so viel gewesen.
Seit diesem Jahr darf in der westlichen Ostsee Dorsch gar nicht mehr gezielt gefangen werden und Hering nur noch mit Kuttern unter zwölf Metern Länge und sogenanntem «passivem Fanggerät», also etwa Stellnetzen wie Kern sie nutzt. Nach einem Entwurf der EU-Kommission für kommendes Jahr soll sich an den Beschränkungen für Hering und Dorsch der westlichen Ostsee nichts ändern. Den Beständen haben Überfischung, Überdüngung und die Klimaerwärmung zugesetzt.
Christopher Zimmermann ist Leiter des Thünen-Instituts für Ostseefischerei in Rostock und berät im Rahmen des Internationalen Rates für Meeresforschung (ICES) auch die EU-Kommission. Er erwartet, dass beim Hering die Ausnahmen für kleinere Stellnetzkutter erhalten bleiben. Für die Scholle schlägt die Kommission eine geringere Steigerung der Fangmenge vor als vom ICES empfohlen, da es in der Schollenfischerei zum Beifang von Dorsch komme. Hier sollen aber in Zukunft spezielle Netze Abhilfe schaffen.
Laut Zimmermann erschwert der Ukraine-Krieg die Festlegung der Fangmengen. Schon in der Vergangenheit habe es nur sporadische Verhandlungen mit Russland über die gemeinsame Festsetzung von Quoten gegeben. «Das ist jetzt komplett zum Erliegen gekommen. Also es gibt letztlich keine abgestimmte Höchstfangmenge.» Er erwartet, dass es insgesamt gemessen an den Beständen auf etwas zu hohe Fangmengen hinauslaufen werde. Im Barentsmeer wiege das Problem noch schwerer, weil Russland hier viel größere Fanganteile habe.
Um die Fischerei in der Nordesse steht es nach Aussage Zimmermanns besser als in der Ostsee. Es gebe Licht und Schatten. «Aber insgesamt kann man reichlich Fisch aus der Nordsee holen, nachhaltig bewirtschaftet. Und die Situation ist viel besser als in der westlichen Ostsee.» Der Nordsee-Hering etwa habe zwar Nachwuchsprobleme. Er sei aber weiter MSC-zertifiziert. «Weil es einen Plan gibt, wie man den wieder in den grünen Bereich bringt.»
Auf das MSC-Siegel verweisen etwa auch die großen Handelsketten, wenn es um nachhaltigen Fischkonsum geht. Auch Karoline Schacht von der Umweltorganisation WWF nennt es als Orientierung. Es garantiere zumindest einen Mindeststandard. Bei Fischen aus Aquakultur gebe es als Gegenstück das ASC-Siegel. Zudem bietet der WWF etwa auf seiner Website einen Einkaufsguide. Hier werden auch Unterschiede je Art in Abhängigkeit von Fangmethode und Herkunft gemacht.
Selbst wenn Fisch in Strandnähe angeboten wird, ist er längst nicht immer regionalen Ursprungs. «Natürlich gibt es an der Ostsee Krabbenbrötchen», nennt Schacht ein Beispiel. Entsprechende Krabben gebe es dort aber nicht. Und bei regionalem Ursprung seien bestimmte Arten wie etwa der Aal Tabu, um ein Aussterben der Art zu verhindern.
Vorteile gegenüber Fleisch vom Land etwa bei der Klimabilanz würden getrübt, wenn der Fisch aus tausenden Kilometern Entfernung stamme – und die EU sei weltweit der größte Fischimporteur. Dennoch kann man laut Zimmermann grob sagen: Für jedes Kilogramm Rind, auf das man verzichtet, kann man zum Beispiel acht Kilogramm Zuchtlachs essen – bei gleichen Umweltauswirkungen. Deshalb brauche man die Fischerei.
Der Experte hat zumindest die Hoffnung, dass irgendwann der Hering der westlichen Ostsee auch wieder eine größere Rolle auf dem Markt spielen könnte. Es gebe, «ganz erste positive Anzeichen, aber da sollte man möglichst nicht sofort wieder darauf rumtrampeln, sondern jetzt sehr vorsichtig agieren». Für das laufende Jahr seien erstmals auch die Fangmengen in Bereichen niedrig genug gewesen, die jenseits der westlichen Ostsee lägen, aber dennoch denselben Bestand beträfen.
Bis sich der Bestand ausreichend erhole, werde es aber nach derzeitigen Prognosen fünf bis sieben Jahre dauern. Und auch dann werde der Ertrag nicht so groß sein wie vor 30 Jahren, sagt Zimmermann. «An der Differenz ist der Klimawandel schuld, den können wir nicht ändern.» Die Erwärmung bestimmter Teile der Ostsee führe zu weniger Nachwuchs. Beim Dorsch der westlichen Ostsee kenne man die Zusammenhänge noch nicht. «Jetzt hilft leider nur abwarten, und es gibt Beispiele, da hat dieses Abwarten 25 Jahre gedauert.»
Wie es bis dahin der schrumpfenden deutschen Ostseeküstenfischerei geht, steht in den Sternen. Kern, der auch Binnenfischer ist, will schon ab kommendem Jahr expandieren und einen zweiten Kutter einsetzen. Von den Menschen wünscht er sich bisweilen etwas mehr Verständnis für sein Handwerk. Teilweise stünden sie vor seinem Kutter und fragten nach Currywurst und Pommes.