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Ukraine-Flagge vor Lenins Nase – Krieg auch auf Spitzbergen spürbar

Der Ukraine-Krieg mag auf Spitzbergen weit weg erscheinen, dabei ist er auch im hohen Norden Norwegens ganz nah. Seit Jahrzehnten leben und kooperieren Norweger und Russen dort miteinander. Durch den Krieg hat diese Koexistenz Risse bekommen - mit ungewissem Ausgang.

In einem Restaurant auf Spitzbergen hängt eine Ukraine-Flagge, die eine massive Büste von Lenin verdeckt. Das Lokal Kroa im Polarort Longyearbyen hat sie sich nach Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine von einer ukrainischen Familie im Ort geborgt, um sie dem Abbild des russischen Revolutionsführers hinter dem Tresen direkt vor die Nase zu hängen. Die Botschaft ist klar: «Wir zeigen mit dieser Flagge, dass wir komplett gegen diesen Krieg sind», sagt Restaurantmanagerin Zandra Zadewasser.

Die Büste von Wladimir Iljitsch Lenin hat eine ebenso besondere Geschichte wie das Zusammenleben von Norwegern und Russen auf Spitzbergen an sich. Seit Jahrzehnten leben und arbeiten sie auf der entmilitarisierten Inselgruppe im hohen norwegischen Norden zusammen. Diese Kooperation wird durch den Ukraine-Krieg auf eine harte Probe gestellt, die Menschen in Longyearbyen stehen vor einem schwierigen Balanceakt: Hier die norwegisch-russische Koexistenz, die das Leben auf Spitzbergen so lange geprägt hat – dort der Krieg, der vieles davon aus moralischen Gründen unmöglich gemacht hat.

Longyearbyen wird oft als nördlichster Ort der Erde bezeichnet und ist mit seinen rund 2400 Einwohnern Spitzbergens wesentliches Bevölkerungszentrum. Die zweitgrößte Siedlung erreicht man, wenn man von hier aus mit dem Schneemobil eine gute Stunde Richtung Westen fährt: Dieser Ort heißt Barentsburg, hat etwa 350 Einwohner, lebt hauptsächlich vom Kohleabbau – und befindet sich im Besitz eines russischen Staatskonzerns, dem Kohleunternehmen Trust Arktikugol.

Aus Barentsburg stammt auch die Lenin-Büste im Restaurant Kroa, wie Zadewasser erzählt. Als Holz für das Lokal vor dessen Eröffnung vor gut 25 Jahren nach Longyearbyen gebracht wurde, lag sie der Lieferung damals ein russisches Geschenk bei.

Festland-Norwegen und Russland haben im hohen Norden eine knapp 200 Kilometer lange Grenze zueinander, aber nirgends sind sie sich so nah wie auf Spitzbergen. Dieser Koexistenz liegt der Spitzbergenvertrag von 1920 zugrunde, der Norwegen die Souveränität über die Inselgruppe zusprach. Zugleich müssen die Skandinavier seitdem gewährleisten, dass andere Länder wirtschaftlich vor Ort tätig sein dürfen – und da kommt Russland ins Spiel. Das Riesenreich erwarb vor über einem Jahrhundert die Rechte, auf Spitzbergen Bergbau betreiben zu dürfen. Daraus entstand ein nachbarschaftliches Verhältnis, das auch den Kalten Krieg und den Zusammenbruch der Sowjetunion überdauerte. Bis zum russischen Angriff auf die Ukraine.

«Vor 2022 hatten wir eine gute Beziehung zum Tourismusunternehmen in Barentsburg», sagt Ronny Brunvoll, der Leiter der Tourismusbehörde Visit Svalbard. «Aber als der Krieg am 24. Februar letzten Jahres vollends begonnen hat, hat das die Situation komplett verändert.»

Manches – etwa sportliche Vergleichswettkämpfe und eine kirchliche Feier für Kinder zum orthodoxen Weihnachtsfest – fand zuletzt noch statt. Andere Kooperationen haben durch Russlands Krieg dagegen arge Risse bekommen. Auch Zollkontrollen wurden eingeführt, die verhindern sollen, dass gegen Russland verhängte Sanktionen umgangen werden.

Vor allem im Tourismus, der neben der Kohleförderung der wesentliche Wirtschaftsmotor der Inselgruppe ist, lässt sich die Stimmung in etwa so beschreiben wie das Wetter vor der Haustür: eiskalt. Spitzbergens Tourismusbranche hat mittlerweile alle Kontakte nach Barentsburg gekappt, wo das Tourismusunternehmen Grumant eine Tochterfirma von Arktikugol ist. Die einst sehr beliebten Schneemobiltouren in die russische Kohlesiedlung und andere Angebote, die mit russischen Staatsunternehmen in Verbindung stehen, werden seitdem bei Visit Svalbard nicht mehr beworben oder anderweitig erwähnt.

Verboten sei es nicht, Tourismus in Barentsburg oder der sowjetischen Geisterstadt Pyramiden zu betreiben, sagt Brunvoll. «Aber die meisten Unternehmen vermeiden es, dorthin zu fahren. Sie halten das für falsch.» Treffen wolle man damit nicht die Menschen vor Ort, sondern jemand anderen im knapp 2600 Kilometer entfernten Moskau: Es sei Putins Krieg, und Putin verfüge indirekt über das in Barentsburg aktive Unternehmen und dessen Einnahmen. «Das Richtige ist aus meiner Sicht, die Kriegsführung nicht zu unterstützen, indem man die russischen Aktivitäten hier unterstützt», sagt Brunvoll.

In Barentsburg wünscht man sich dagegen, dass Politik und Geschäft getrennt werden. «Sollen wir bestraft werden, nur weil wir Russen sind?», fragte Grumant-Chefin Tatjana Agejewa im vergangenen Herbst vor der Entscheidung zum touristischen Ausschluss des Unternehmens in einem offenen Brief. Sie verwies darauf, dass die Mehrheit der Einwohner von Barentsburg Ukrainer aus Luhansk und Donezk seien, die die Ukraine gerade wegen des Konflikts verlassen hätten. «Wir sind für Zusammenhalt, Entwicklung und Zusammenarbeit», betonte sie.

In der Tat leben auf Spitzbergen Menschen aus Dutzenden Nationen. In Longyearbyen wohnen viele Deutsche, aber auch zahlreiche Russen und Ukrainer – darunter etliche, die Barentsburg und Pyramiden nach Kriegsausbruch verlassen haben. Alle in Longyearbyen seien beim Krieg einer Meinung, sagt eine ukrainische Verkäuferin im Ort. Eine andere Bewohnerin berichtet: «Wenn Sie ein Russe im Ort sind, dann leben Sie hier, weil Sie gegen den Krieg sind.» Viele davon unterstützten den inhaftierten Kremlgegner Alexej Nawalny, sagt sie.

Der Ukraine-Krieg mag auf Spitzbergen weit weg erscheinen, fühlt sich aber sehr nah an, wie viele Menschen auf den verschneiten Straßen von Longyearbyen betonen. Auch der norwegische Geheimdienst PST behält die Inselgruppe genau im Blick: «Jede Veränderung oder Unsicherheit über Norwegens Politik im hohen Norden wird für russische Geheimdienste von Interesse sein», schrieb der PST im Februar in seiner nationalen Risikobewertung für das Jahr 2023.

Wie viele Menschen in Longyearbyen hofft Brunvoll darauf, dass sich die Beziehungen eines Tages wieder normalisieren. Zunächst brauche es aber eine Lösung in der Ukraine – dann dürfte es viele Jahre dauern, bis es wieder eine vertrauensvolle Beziehung zu Russland geben könne. «Ich hoffe, dass es irgendwann wieder das alte Spitzbergen wie vor dem Krieg gibt. Aber wann und wie? Das kann ich nicht sagen.» Bis auf Weiteres bleibt somit auch die Ukraine-Flagge im Restaurant Kroa genau dort, wo sie seit langem hängt: Lenin direkt vor der Nase.

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