Kleine Stadt ganz groß: Obwohl Sartène/Sartè (korsisch) nur rund 3500 Einwohner beherbergt, gehört sie mit ihrem 22.000 Hektar großen Gemeindegebiet und der 33 Kilometer langen Küstenlinie von Roccapina bis Campomoro zu den Top Ten Frankreichs. Das pittoresk in den Granitfelsen aufgetürmte Städtchen im Südwesten der Insel gebietet über begehrte Badestrände und edle Weingärten, grüne Wälder und Fischerdörfer.
Merimées Korsika Novelle
Prosper Mérimée, Autor der Korsika-Novelle „Colomba“ und Denkmalschützer, charakterisierte Sartène im 19. Jahrhundert als „plus corse des villes corses“, als „korsischste aller korsischen Städte“. Stolz prangt dieses Qualitätsurteil heute auf dem Ortsschild und auf diversen Publikationen. Es gibt aber auch eine hässliche Seite Sartès: Im 19. Jahrhundert galt sie als Schaltzentrale der Blutrache, der Vendetta. Damals standen sich ganze Stadtviertel bis auf die Zähne bewaffnet verfeindet gegenüber.
Anders als Bonifacio oder Calvi, deren Altstadt ganz von der Stadtmauer umgeben ist, macht Sartène nicht gleich den Eindruck eines touristischen Hotspots. Wir können, zumindest in der Vorsaison, in einer Nebenstraße parken, und laufen nicht durch eine verkitschte Disney-Welt. Auf der Steinbank sitzen noch die alten Männer, deren Kopfbewegungen das Geschehen im Gleichklang verfolgen.
Das Kreuz des Büßers
Vor dem Rathaus stehen Grüppchen Einheimischer, deren Debatten den Ton bestimmen, nicht das Surren der Digitalkameras. Die Kirche Sainte Marie passt sich nahtlos in die graue Granitarchitektur ein. Ihr Vorgängerbau von 1593 war 1765 eingestürzt. Das heutige Gotteshaus ist weitgehend im 19. Jahrhundert entstanden. Es beherbergt ein gut 30 Kilogramm schweres Eichenkreuz samt 14 Kilogramm schwerer Kette, das ein vom Priester auserwählter, rot verhüllter Büßer, Catenacciu, bei der berühmten Karfreitagsprozession durch die Gassen der Altstadt schleppt.
Durch den Torbogen des Rathauses betritt man das mittelalterliche Gassengewirr; das unter genuesischer Regie auf dem Felsvorsprung U Pitraghju entstand. Die mächtigen Verteidigungsmauern boten nicht immer Schutz: Korsaren-Admiral Turgut Reis und seine Mannen nahmen die Trutzburg 1583 ein und verschifften 400 Bewohner in die Sklaverei nach Algerien. In der Hauptstraße dominieren die Restaurants, deren Freisitze man gerade eben noch so passieren kann, ohne sich am Putz schmutzig zu machen.
Nächtliches Labyrinth von Treppen
Aus der Gaststube dringen korsische Gesänge vom Band, les Voix Emotions, und verleiten zu einem vorzeitigen Abendessen: Zucchini-Krapfen, mit Brocciu gefüllte Zucchini und ein Kastanien-Flan als Menü (22 Euro) dazu ein würziger roter Alzipratu (18 Euro, halber Liter) aus der Gegend – gute, bodenständige Hausmannskost und ein zuvorkommender Ober, der die Spezialitäten gerne erklärt und das CD-Cover zur Begutachtung vorbeibringt (Roy Theodore, 13 Rue Frères Bartoli, Tel. +33-04 95 77 17 77).
Nachdem sich die Nacht über die Altstadt gelegt hat, und nur spärliches Licht düstere Nebengassen, die sich rechts und links endlose Treppen hinauf oder hinab quälen, kann man der in Stein gesickerten Feindseligkeit der alten Sippen noch nachspüren. Abweisende Fassaden, ein Labyrinth von Treppen, von denen man nie weiß, welche zur gesuchten Tür führt – und jede Menge Verstecke, wo ein gedungener Bluträcher lauern kann. Man möchte gar nicht darüber nachdenken, aus welch geringfügigen Anlässen die Ehre einer Sippe als befleckt, das eigene Leben als verwirkt galt: „Hat jemand meine Schwester schief angesehen?“
Vendetta-Messer als Souvenir
Keine Angst, die Zeiten sind vorbei. Die Einwohner Sartès spielen noch etwas mit dem Image als einstiges Zentrum der Blutrache – aber nur aus Gründen der touristischen Vermarktung. Nicht nur hier kann man in jedem zweiten Laden die schön geschmückten Klappmesser kaufen, die den Sartènais früherer Jahrhunderte allzu locker in der Hand lagen.
Besonders im Quartier Borgo hinter der zentralen Place de La Libération reihen sich Souvenirläden, korsische Spezialitätengeschäfte und Restaurants aneinander. Der Hauptplatz vor der Kirche, von den Einheimischen Place Porta genannt, macht dem Kosenamen der Stadt alle Ehre: Eine steinerne Balustrade, vor dem die Büste von Alt-Revoluzzer Pasquale Paoli thront, verleiht dem Wohnzimmer der Sartènais das Gepräge einer Terrasse mit Blick über das Tal – eben eines balcone du Valinco.