Brüssel/Berlin (dpa) – Nach den verheerenden Flüchtlingskatastrophen im Mittelmeer wollen die Staats- und Regierungschefs der EU-Staaten an diesem Donnerstag umfangreiche Hilfsmaßnahmen beschließen. Bei dem Sondergipfel in Brüssel könne vielleicht sogar eine Verdreifachung der Mittel für die Seenotrettung auf den Weg gebracht werden, machte Bundesinnenminister Thomas de Maizière im Bundestag deutlich. Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International hatten zuvor einen für das Gipfeltreffen vorbereiteten Zehn-Punkte-Plan als unzureichend kritisiert. In ihm war zunächst von einer Verdoppelung der Mittel die Rede gewesen.
De Maizière (CDU) sagte im Bundestag: «Seenotrettung ist das erste und dringlichste, was unverzüglich beginnen muss.» Die EU könne aber auch nicht jeden aus Afrika aufnehmen. Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) warnte davor, schnelle Lösungen zu erwarten. «Mühe, Zeit und Aufwand» seien vor allem für die Stabilisierung des Transitlandes Libyen notwendig. Die Opposition im Bundestag forderte zusätzlich legale Einreisewege für Schutzsuchende nach Europa.
Beim EU-Gipfel soll es darum allerdings nicht gehen. Schwerpunkt ist neben der Seenotrettung die Bekämpfung der Schleuser. In einem Entwurf für die Gipfel-Abschlusserklärung wird die EU-Außenbeauftragte aufgefordert, sofort mit Vorbereitungen für eine mögliche Militäroperation zu beginnen. Sie soll das Ziel haben, Schlepper-Schiffe zu identifizieren und zu zerstören, bevor sie zum Transport von Flüchtlingen genutzt werden können. Wo Schiffe angegriffen werden könnten, ist noch unklar. Nach Angaben aus EU-Kreisen könnte es gezielte Aktionen auf Grundlage von Geheimdienstinformationen geben. Ein ranghoher EU-Beamter verwies auf entsprechende Erkenntnisse Italiens.
Aus Italien wurde unterdessen berichtet, dass der Kapitän des am Wochenende im Mittelmeer gesunkenen Flüchtlingsschiffes unter Alkohol- und Drogeneinfluss gestanden haben könnte. «Der Kapitän hat Wein getrunken und seit der Abfahrt Joints geraucht», sagte ein Überlebender des Unglücks mit vermutlich bis zu 800 Toten nach Angaben der Agentur Ansa. Der aus Tunesien stammende Kapitän sitzt mittlerweile im Gefängnis. Er hatte als einer von ganz wenigen Menschen an Bord gerettet werden können. Ihm wird nun unter anderem mehrfache fahrlässige Tötung vorgeworfen.
Die italienische Küstenwache brachte am Mittwoch weitere 220 Menschen in Sicherheit. Sie seien etwa 40 Seemeilen (75 Kilometer) vor der libyschen Küste an Bord von zwei Schlauchbooten in Seenot geraten, teilte die Küstenwache mit. Die Migranten sollten nach Sizilien gebracht werden.
Der Zehn-Punkte-Plan, der an diesem Donnerstag beim EU-Sondergipfel diskutiert werden soll, umfasst grob vier Bereiche. Neben einer besseren Seenotrettung geht es um den Kampf gegen Schleuser, mehr Hilfe für Ankunftsländer wie Italien und eine Kooperation mit afrikanischen Staaten.
Zumindest vorübergehend sollte die ausgelaufene italienische Seenotrettungsoperation «Mare Nostrum» mit finanzieller und logistischer Unterstützung der EU wieder aufgenommen werden, forderte die Menschenrechtsorganisation Amnesty International am Mittwoch. Die aktuelle europäische Operation «Triton» sei für eine umfassende Seenotrettung nicht ausgerüstet.
Länder wie Deutschland hatten wiederholt gewarnt, ein Ausbau der Seenotrettung könne Schlepperbanden in die Hände spielen. Für Kanzlerin Angela Merkel stehe die Rettung von Menschenleben an erster Stelle, betonte Vize-Regierungssprecherin Christiane Wirtz am Mittwoch in Berlin. Nach Meinung der Kanzlerin seien Bilder von ertrinkenden Menschen mit den Werten der EU nicht vereinbar.
Die Vorsitzende des Entwicklungsausschusses des Bundestages, Dagmar Wöhrl (CSU), forderte: «Wir müssen ehrlich sein und sagen: Wir werden in Europa in der Zukunft mehr Flüchtlinge aufnehmen müssen.» Nach einer repräsentativen Umfrage im Auftrag des Nachrichtenmagazins «Focus» ist eine Mehrheit der Deutschen dafür, mehr Flüchtlinge als bisher aufzunehmen. Wie das Blatt am Mittwoch berichtet, befürworten in der Umfrage von TMS Emnid 52 Prozent der Bundesbürger diesen Vorschlag, 44 Prozent lehnen ihn ab.