Santiago de Compostela (dpa) – Mit Karacho rattern fünf junge Pilger auf Rädern die Stufen zum Obradoiro-Platz vor der Kathedrale von Santiago de Compostela hinunter – und jagen zwei bedächtig schlendernden Geistlichen einen Riesenschreck ein. Nur wenige Meter weiter feiern zwei Dutzend Mexikaner ihre Ankunft mit Tänzchen und Gesängen. «Llegamos, llegamos!» – «Wir sind da, wir sind da!», schreien sie. Am Ziel des Jakobsweges herrscht dieses Jahr Hochkonjunktur – sogar jetzt noch im Herbst. Mehr als 430 000 Wallfahrer erhielten 2022 bereits die Ankunftsurkunde, wie die Pilger-Behörde Oficina del Peregrino informiert. Das sind gut 20 Prozent mehr als im gesamten bisherigen Rekordjahr 2019. Dabei holen sich viele die Urkunde gar nicht ab – und werden nicht gezählt.
Im Wallfahrtsort im Nordwesten Spaniens, der in Deutschland durch Hape Kerkelings Buch «Ich bin dann mal weg» populär wurde, klingen die Kassen lauter denn je. Die Betreiber der inzwischen sehr teuren Hotels, Privatunterkünfte, von Souvenirläden und Gaststätten reiben sich die Hände. Aber nicht alle freuen sich. Denn anders als in Lourdes oder Fátima stehen Religiosität und Andacht hier längst nicht mehr im Mittelpunkt der Besucherströme. Vermüllung, Lärm und Vandalismus nehmen immer mehr zu. Viele Bewohner der von der Unesco geschützten Altstadt sind wütend oder verzweifelt, wie man immer wieder hört, wenn man das Thema im Zentrum von Santiago auch nur ansatzweise anspricht.
«Es ist eine Tendenz, die schon vor einigen Jahren begann, aber dieses Jahr war es besonders schlimm, im Sommer war es zeitweilig schlicht unerträglich», erzählt die Bewohnerin Beatriz der Deutschen Presse-Agentur. Sie habe im Homeoffice wegen des Lärms von draußen größte Schwierigkeiten gehabt, sich zu konzentrieren. «Wenn Du mit 40 Wallfahrern um sieben Uhr morgens in die Stadt kommst, musst du verstehen, dass dort Menschen wohnen, arbeiten, studieren, schlafen. Du kannst doch nicht laut herumgrölen. Es geht um Respekt», sagt sie.
Im Zentrum der Hauptstadt Galiciens ist es tagsüber schon sehr laut. Abends dann noch um einiges mehr. Vor allem in der Rua de Franco. Die Bars und Restaurants an der 400 Meter langen Partymeile unweit der Kathedrale sind an diesem Herbstabend noch um Mitternacht alle voll. Vor den Lokalen bilden sich zum Teil sehr lange Schlangen. «Noch ‘ne Flasche, Leute?», ruft ein Italiener an einem langen Tisch, und die Gruppe antwortet im Chor: «Siiii, un‘altra bottigliaaaa!»
Die Einheimischen erkennt man oft daran, dass sie die Nase rümpfen, die Augen verdrehen oder den Gang beschleunigen. Ganz anders Hendrik. «Hier ist es fast so geil wie am Ballermann!», ruft der 21-Jährige aus Hamburg. «Nur der Strand und das Meer fehlen.» Er muss das aus nächster Nähe gleich dreimal fast schreiend wiederholen, so laut ist es. Der schlaksige junge Mann hat die Eltern auf den gut 500 Kilometern zwischen Miranda de Ebro und Santiago zunächst nur widerwillig begleitet – ist aber nun «total überrascht und happy».
Santiago de Compostela ist nicht nur ein Schmuckstück religiöser Baukunst und beliebter Wallfahrtsort, weil der Überlieferung nach über dem Grab des Heiligen Jakobus die Kathedrale gebaut wurde. Es ist auch eine alte Universitätsstadt, die seit jeher junge Leute aus dem In- und Ausland beherbergt. Aber auch die Mehrheit der Studenten, von denen einige bekanntlich nicht ungern feiern, schimpfen, wenn man sie nach dem Benehmen vieler Wallfahrer fragt – wie Beatriz‘ Tochter Clara.
«Ich war im Sommer nicht da, aber Freunde haben mir Videos von den riesigen und lauten Pilgermassen geschickt. Es war beängstigend, so etwas hatten wir hier bisher noch nie.» «Es gibt immer mehr Müll auf den Straßen, immer mehr Ladendiebstähle», lautet ihre Einschätzung. Clara fordert, wie so viele hier, «mehr Respekt». Einige sprechen sogar von «Krieg»: Pilger kämen oft mit Megafonen, Pauken oder Trompeten – und von Balkonen aus würden sie dafür mit Wassereimern begossen.
Von der Polizei heißt es unterdessen, die Kriminalität habe bisher 2022 in der gesamten Region Galicien und auch in Santiago um rund 30 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum zugenommen. Ob das mit den steigenden Pilgerzahlen zu tun hat, wolle beziehungsweise könne man nicht sagen.
In verschiedenen Medien und den sozialen Netzwerken ist die Kritik drastisch. Die renommierte Tageszeitung «El Mundo» erzählte in einer Reportage von Besucher-Horden, die «obszöne Schreie» ausstießen und «überall hinpissen». Der Massentourismus «wie in Venedig oder auf Mallorca» bringe die kleine Gemeinde mit 96 000 Einwohnern und der beschränkten Infrastruktur «an den Rand des Kollaps». In der Tat: Die Busse sind oft überfüllt, der traditionelle Handel wird von Souvenirläden, hippen Bars und Ketten verdrängt. Wegen des Airbnb-Booms herrscht dramatischer Wohnungsmangel. «Wir werden aus unserer Stadt verjagt», sagte ein empörter «Compostelano» der Digitalzeitung «Galiciapress».
In den sozialen Netzwerken werden die Besucher mit «plündernden Hunnen» und «britischen Fußball-Hooligans» verglichen. Keine Übertreibung, beteuert Monse Vilar, Präsidentin des Bürgerverbandes «A Xuntanza». Auf Facebook postet sie Videos, auf denen zu sehen ist, wie riesige Gruppen ankommender Pilger die Fahrbahn stürmen und den Autoverkehr zum Erliegen bringen. Vilar: «Das sind unzivilisierte und unverantwortliche Verhaltensweisen, die weit über Lärm hinaus gehen. Dies hier ist kein Freizeitpark, sondern ein bewohnter Raum.»
Regionalmedien warnen, der Jakobsweg könne «am eigenen Erfolg zugrunde gehen». Noch in den 1970er Jahren machte sich kaum jemand auf, den «Camino» zu gehen. Es waren damals nur ein paar Dutzende pro Jahr. Selbst bei den Besuchen des beliebten Papstes Johannes Paul II. kletterte diese Zahl nur auf jeweils rund 2000 (1982) und 5000 (1989) im Gesamtjahr. Im Zuge der spirituellen Bücher des brasilianischen Bestsellerautors Paulo Coelho kam dann der Boom. 1993 wurde erstmals die Marke der 100 000 Besucher geknackt, 1999 die der 150 000. Nach dem Kerkeling-Buch avancierten die Deutschen hinter den Spaniern zu einer der größten Gruppen. 2022 waren es laut offiziellen Angaben bisher knapp 25 000.
Die Betroffenen setzten auf die Einsicht der Pilger und klebten im Sommer an Pfosten und Wänden Zettel mit «Benimmregeln für das Ende des Jakobsweges». Die Hinweise würden aber von den meisten Besuchern ignoriert. Man beschwerte sich also als nächstes bei den Behörden. Umsonst: Beim Treffen mit Bürgermeister Xosé Sánchez Bugallo «bat der uns, doch bitte eine kleine Anstrengung zu machen», erzählte Vilar. Von dieser Aussage des Bürgermeisters beim Treffen mit den Nachbarvertretern berichteten auch mehrere regionale Medien.
Die Stadt erwägt hingegen die Einführung einer Übernachtungssteuer, um noch mehr vom Besucherboom zu profitieren. Santiagos Erzbischof Julián Barrio warb für mehr Verständnis für die Pilger und deren Freude bei der Ankunft: «Wollen wir denn vom Meerwasser verlangen, dass es nicht salzig sein soll?»
Auch wenn der Tourismus in Santiago sich wie auch anderswo nicht mehr auf die Sommermonate beschränkt, können die «Compostelanos» langsam und wohl bis Mitte März auf ruhigere Zeiten hoffen. «Doch wir alle zittern schon vor allem vor dem nächsten Sommer. Das wird die Hölle», sagt Architekt Juan Carlos. «Meine Eltern sind Rentner und haben Geld, sie können zum Glück weg. Sie wollen zur Erholung nach Ibiza. Dort soll es inzwischen sogar im Sommer ruhiger sein als hier.»