Berlin (dpa/tmn) – Ein Schlaganfall, ein Herzinfarkt oder ein Sturz: Von einem Moment auf den anderen kann ein Mensch pflegebedürftig werden. Doch viele Familien sind nicht darauf vorbereitet, wenn es denn passiert. Sie haben nie geklärt: Was wünscht sich Mama oder Papa überhaupt, wie verteilen wir Aufgaben?
In so einer Situation ist also Gold wert, wenn man sich als Familie schon einmal mit einer möglichen Pflegebedürftigkeit auseinandergesetzt hat. Auch wenn das schwerfällt – und man den Gedanken daran am liebsten ganz weit wegschieben möchte. Zwei Expertinnen verraten, wie solche Gespräche gut gelingen können.
Der Eintritt ins Rentenalter ist ein guter Zeitpunkt
Wann geht man das Thema Pflegebedürftigkeit am besten an? «Je früher, desto besser», sagt Susette Schumann. Sie ist Vizepräsidentin der Deutschen Fachgesellschaft für aktivierend-therapeutische Pflege (DGATP). «Viele meinen: “Pflegebedürftigkeit wird mich nie treffen, also muss ich mich nicht kümmern!” Leider passiert es aber doch immer wieder und wenn, dann meist recht plötzlich.» Sie schlägt als guten Zeitpunkt den Eintritt ins Rentenalter vor. Manche Sozialdienste bieten um diesen Termin herum auch Beratungsgespräche an.
Sich mit den Eltern bzw. Kindern über das Thema Pflegebedürftigkeit zu unterhalten, ist für viele erst einmal eine große Hürde. «Pflegebedürftigkeit wird schnell ein Tabuthema, weil wir alle Ängste vor Siechtum und Gebrechlichkeit haben», sagt Eva-Marie Kessler. Die Gerontopsychologin ist Professorin an der Medical School Berlin. «Doch es ist wichtig, sich immer wieder zu dem Thema auszutauschen.» Mit Betonung auf: immer wieder. Denn in der Regel ist es nie nur ein einziges Gespräch.
Ebenfalls wichtig: «Das Thema geht die ganze Familie an», sagt Susette Schumann. Am besten setzen sich daher alle zusammen. Es könne nicht sein, dass bei mehreren Geschwistern nur ein Sohn oder eine Tochter dafür zuständig sei, zum Beispiel derjenige, der am selben Ort wie die Eltern wohnt. «Sonst braucht am Ende die alte Mutter Hilfe und es bleibt alles an einem Kind hängen.»
Ein offener Austausch ohne Tabus
Alle sitzen am Tisch – und nun? Der erste Schritt ist, den Gedanken zuzulassen: Pflegebedürftigkeit könnte auch uns treffen. Dann geht es um ehrliche Fragen und Antworten: Was will die Person oder die Personen, um die es hier geht? Was können die Kinder leisten und was nicht?
Hier darf alles zur Sprache kommen: äußere Umstände, Berührungsängste und Befürchtungen. «Eltern bekommen dadurch eine Vorstellung davon, wozu ihre Kinder bereit sind und was auf keinen Fall geht», sagt DGATP-Vize Schumann.
So ein Gespräch stößt bei Älteren etwas an. «Eltern wollen meist ihren Kindern nicht zur Last fallen. Redet man frühzeitig miteinander, bekommen sie vielleicht noch mal eine andere Sicht auf die Dinge und haben noch die Zeit, sich um vieles selbst zu kümmern und selbst zu entscheiden», sagt Schumann. Zum Beispiel, endlich eine Patientenverfügung oder Vorsorgevollmacht aufzusetzen.
Generell gilt bei solchen Gesprächen: «Kinder sollten wissen, dass es immer der alte Mensch selbst ist, der entscheidet», sagt die Gerontopsychologin Eva-Marie Kessler. «Sie können immer nur unterstützen, dass die Eltern gute Lösungen finden.»
Trotzdem ist es wichtig, dass die Kinder ihre Sichtweisen einbringen. «Auch wenn sie etwa das Gefühl haben, Vater oder Mutter gestehen sich vielleicht nicht ein, was schon alles nicht mehr alleine geht», so die Professorin. Kinder sollten außerdem ehrlich mit sich selbst sein, wenn sie die eigenen Ressourcen ausloten.
Was Pflege wirklich bedeutet
Und was ist mit Versprechen wie «Papa, du musst niemals ins Heim!» oder «Mama, ich werde dich zu Hause pflegen!», die womöglich unter emotionalem Druck über die Lippen kommen? Susette Schumann rät davon ab. «Keiner kann eigentlich so ein Versprechen halten», sagt sie. «Und kaum einer weiß auch, was so ein Versprechen bedeutet.»
So wüssten viele Angehörige nicht, was Pflege wirklich heiße. «Manche denken: “Ich habe doch auch für mein Kind gesorgt, dann kann ich das auch bei den Eltern”», weiß die Pflegeexpertin aus Erfahrung. Wenn aber bestimmte Krankheitsbilder dazukämen oder sich eine anstrengende Pflegesituation über viele Jahre hinziehe, könnten Angehörige das oft nicht mehr leisten. «Viele kommen körperlich an ihre Grenzen und finden sich am Ende in einer isolierten Situation wieder.»
Hilfe holen ist okay
Apropos Grenzen: Um die eigenen Möglichkeiten und Kapazitäten auch schon vorab besser einschätzen zu können, hilft es, mit Menschen zu sprechen, die mehr Erfahrungen mit dem Thema Pflegebedürftigkeit haben. Das können pflegende Angehörige sein, ältere Menschen aus dem Bekanntenkreis – oder auch Mitarbeiter von Pflegestützpunkten.
Diese Gespräche mit Außenstehenden geben vielleicht auch Impulse, wenn sich ein Gespräch in der Familie festgefahren haben sollte. Wenn sich etwa herausstellt: Es ziehen nicht alle an einem Strang. «Verabschieden Sie sich von dem Anspruch, alles gut alleine hinzukriegen», sagt Kessler. «Es ist erlaubt, andere zu fragen und um Unterstützung zu bitten.»
Die nächsten Schritte definieren
Wer sich in der Familie rechtzeitig immer wieder ausgetauscht hat, hat bereits etwas ganz Wichtiges getan: den Gedanken in den Blick genommen, dass Pflege eines Tages infrage kommen könnte – ob durch ambulante Dienste zu Hause oder durch eine Unterbringung in einem Heim. Je nach Situation können sich daraus weitere Schritte ergeben, wie sich über häusliche Pflege zu informieren oder sich Heime anzusehen.
Auch Akutsituationen lassen sich dadurch zumindest schon ein Stück vorbereiten. Etwa wenn Mutter oder Vater von heute auf morgen in einem Heim untergebracht werden muss, weil es nach einem Krankenhausaufenthalt, zum Beispiel nach einem Schlaganfall oder einem Sturz zu Hause nicht mehr geht. Gut, wenn in so einer Situation schon manches geklärt ist, zum Beispiel eine Patientenverfügung aufgesetzt und hinterlegt ist.