Auf einen Blick: Mont St-Michel
Einwohner: 40
Tourist-Info: Corps de garde des Bourgois, Telefon +33 (0)2 33 60 14 30
Gottesdienst: täglich um 12.15 Uhr
Öffnungszeiten: Mai bis September 9 bis 19 Uhr, Oktober bis April 9.30 bis 17 Uhr (an manchen Tagen auch 9 bis 18 Uhr). Geschlossen: 1. Januar, 1.Mai, 1. November, 25. Dezember
Freier Eintritt in Abtei und Museum: jeden ersten Sonntag im Monat
Der Mont St-Michel versandet: UNESCO-Kulturerbe, Naturspektakel und Big Business
Da steht er also. Reckt seinen Turm in den Himmel. Tausend mal gesehen auf Postkarten, Fernsehbildern, als Kinokulisse. Vor mir die Wiese mit ein paar Schafen und dahinter unwirklich wie eine Fatamorgana im Grünen leicht verschwommen im Hintergrund der berühmte Mont St. Michel mit der Abteikirche und der Großartigen, La Merveille, dem dreistöckigen Anbau auf nacktem Fels, einzigartiges Wahrzeichen Frankreichs, umstrittenes Kulturgut zwischen der Bretagne und der Normandie, das im Hundertjährigen Krieg einer dreißigjährigen Belagerung der Engländer standgehalten haben soll. Wie soll das gehen? Selbstversorgung mit Ackerbau und Viehzucht am Berg?
Ehrlich gesagt: Ich bin mir nicht mal sicher, wie man dort überhaupt rüberkommt und wenn, wann? Ebbe, Flut, Damm? Ausprobieren. Aber erst brauche ich nach dieser langen Autofahrt einen kleinen Lauf hinter unserem Bauernhof mit den Fremdenzimmern – 45 Euro das Doppelzimmer mit Frühstück, nicht schlecht für ein Zimmer mit Blick auf den Mont. Der bleibt mir auch beim leichten Trab auf dem Rad- und Wanderweg erhalten, der sich Route der Mühlen nennt.
Im Ohr Jaques Brels „mein flache Land, mein Flanderland“ passt fraglos auch auf diese Landschaft, „der Himmel ist so grau, dass man ihn trösten muss, mit deinen Kathedralen anstellen von Bergen“ – und was für eine Kathedrale, ein Triumph über die Elemente, über die Gezeiten, eines der beeindruckendsten Kunstwerke der Menschheit. Aus der Ferne.
Das 200-Millionen-Euro-Rückbau-Projekt
Eine Annäherung: Die Dammstraße führt seit 1879 direkt zu einem Parkplatz vor dem Monument. Erst 2001 wurden die Schienen entfernt, die seit 1901 Scharen von Touristen bis vor das Haupttor transportierte. Jetzt ist der Rückbau angesagt: Der Damm stellt einen Eingriff in die Gezeiten dar, der zu einer Versandung des Monts geführt hat. Experten prophezeien, dass das UNSECO-Weltkulturerbe (seit 1979) in 30 Jahren inmitten einer Kräuterwiese stehen wird, wenn jetzt nicht passiert.
Das 200-Millionen Euro teure Projekt (die Restaurierung des Schlosses in Versailles kostet rund eine Milliarde Euro) soll bis 2015 Entlastung bringen. Damm und Parkplätze sollen gänzlich verschwinden, stattdessen sollen die Besucher vom 2,5 Kilometer entfernten Dorf La Caserne – nomen est omen, Touristenkaserne würde es besser treffen – mit Pendelbussen und futuristischen Pferdewägen über einen neu gebauten Steg zum Mont gekarrt werden. Aber das ist Zukunftsmusik. Jetzt lautet das Programm: entern der befestigten Klosteranlage.
Man hat ja viel gehört von der Flut, die schneller sein soll als ein galoppierendes Pferd, wie es Victor Hugo formulierte. Also trauen wir der Sache mit dem trockenen Parkplatz noch nicht ganz. Doch, doch, versichert ein Schild, derzeit ist unser Auto in Sicherheit. Ich und mein eingerostetes Schulfranzösisch: Was heißt das nun wieder? Kommt die Flut des Nachts galoppiert und holt sich unseren Renault? Der Blick auf eine unübersehbare Reihe glänzender Karosserien zerstreut die Sorge. Man hätte bestimmt schon mal von Tausenden von weggeschwemmten Fahrzeugen gelesen, die dämliche Touris vor dem Mont abgestellt hätten, wenn das hier riskantes Schwemmland wäre. Dazu später mehr.
Big Business: Zwei Clans beherrschen den Mont
Rein in das Vergnügen, das, wie wir angenehm überrascht feststellen, erst einmal gar nichts kostet – der Zugang zur Grande Rue ist nicht steuerpflichtig. Keine Selbstverständlichkeit in Zeiten, in denen selbst das Goldene Gässchen am Prager Hradschin gebührenpflichtig abgesperrt wurde. Aber das ist eine andere Geschichte. Aber vielleicht sind die Mont-St-Michelesen auch nur raffinierter? Denn die große Straße rauf zur Abtei ist unübersehbar big business – wie wir recherchiert haben hart umkämpft von zwei Fraktionen, die sich die zirka 50 Souvenirläden, Hotels, Restaurants, Bars und Cafés am Mont und in La Caserne (dem künftigen Brückenkopf) unter den Nagel gerissen haben.
Die Gruppe Sodetour, zu der auch die Traditionscrêperie „La Mère Poulard“ gleich nach dem Eingang gehört und wo eine Crêpe des Hauses schlappe 30 Euro kostet – gehört Éric Vannier, Bürgermeister von Mont St. Michel seit 1983. Nur zwischen 2001 und 2008 musste er diesen ausgerechnet für seinen schärfsten Geschäftskonkurrenten, Patrick Gaulois, räumen. Aber nicht, dass sie jetzt meinen, es wär‘ nicht mehr so wie in der guten alten Zeit: Am Mont wusste man schon immer, die Bedürfnisse und Sehnsüchte der Pilgerscharen zu Geld zu machen.
Ich kalkuliere kurz im Kopf: Wenn hier jeder Besucher nur 10 Euro lässt, die 30 für den Geheimrezept-Crêpes der alten Mutter Poulard und die etwa 90 für eine Übernachtung im Mouton Blanc noch gar nicht mitgerechnet, macht das schon 30 Millionen Euro im Jahr – in der Hauptsaison überrennen 30 000 Touristen pro Tag den kleinen Berg.
Wo der Erzengel sein Schwert schwingt
Aber wissen Sie was? Es geht auch ohne Geld und Gedränge! Ein paar hartnäckige Tourifänger abwimmeln, die einem partout eine Gruselführung durch ihre Selfmadeausstellung andrehen wollen und ab in die Seitengassen – und Sie glauben es nicht: Schon hat sich der Strom der Menschen drastisch verringert. Mal einen Blick in die Église St-Pierre geworfen, dem philippinischen Priester gelauscht, der seiner Gruppe hier die Messe liest, durch den Hinterausgang geschlüpft, und plötzlich sieht man sich allein vor steilen Treppen mit einsamen Blicken über Gärten zur Abteikirche hoch, wo auf der Spitze des neogotischen Turms im strahlend azurblauen Himmel der goldene Erzengel Michael sein Schwert schwingt – unbezahlbar, Venedig im Winter Arbeitstitel.
Natürlich, an der Warteschlange oben beim Eingang zu den heiligen Gemäuern nach der schweißtreibenden Treppe kommen auch wir nicht vorbei. Gelegenheit etwas abzukühlen, das Kameraobjektiv zu reinigen, die Wasserflasche aus dem Rucksack zu kruschen, den Presseausweis rauszukramen – apropos: Anstandslos lässt uns der Museumskassier mit zwei Freikarten passieren. Da sagen wir: „Chapeau, Frankreich!“ Die venezianische Wachtel hatte nur unwirsch mit dem Zeigefinger gewackelt, hier aber im Land der Liberté weiß man eben noch die Vorteile der freien Presse zu schätzen.
Wir entscheiden uns für den Audioguide – quasi Geschichtsbuch im Ohr, Reiseschreibmaschine, sprich Nokia-Communicator 9500 Oldtimer, in der einen, Kamera in der anderen Hand. Reisejournalismus eben auch oft Multitasking mit Zirkusartistik, frage nicht. Da ist jetzt eben das Doppelkinn auch wieder für was gut, wenn du den Audioguide beim Mitschreiben festzwicken musst. Das Ergebnis lesen Sie im nächsten Kapitel, weil wir müssen hier jetzt ein wenig auf die Tube drücken, wenn wir noch durch alle drei Kirchenebenen vom Mittelschiff der Michaelskirche bis hinab zu den Krypten wieder zurück, raus aus den alten Klamotten pünktlich zur 12-Kilometer-Wanderung um den Mont kommen wollen.
Wenn die Demut zu Kopf steigt
Was sollen wir sagen, was nicht schon in Hunderten von Beschreibungen festgehalten worden ist? Mit einem Wort: abseits! Ja, wie beim Fußball, aber hier erlaubt, wir suchen das Abseitige. Nicht so leicht auf dieser Besichtigungsautobahn. Wozu sind also die Kirchenbänke gut, wenn nicht zum Draufsitzen. Jetzt wenn du da so sitzt mit sagen wir 30 Metern romanischem Kirchenschiff über dir, dann nicht gerade Demut, aber doch ein wenig Relativitätstheorie: Da kommst du meinetwegen vor achthundert Jahren als einfacher Mönch oder sagen wir als Mönchlehrling, quasi Novize, sprich Bauernbursch mit 17 Jahren durch das Portal spaziert und dann Zeitmaschine.
Kein Vergleich mit der zwei Meter hohen Hütte daheim, wo alles gleichzeitig schreit (die kleinen Geschwister), stinkt (der Eintopf) und surrt (die Fliegen) – hier unendliche Leere, und Größe und Höhe, du schaust hoch – ja wohin hoch – direkt in den Himmel, wo dereinst der Erzengel Michael, jetzt auch ein wenig dein Boss, dem Jüngsten Gericht vorsitzt, weil er schon mal den Drachen, sprich Satan, dem gefallenen Engelskollegen, mit dem Schwert gezeigt hat, wo der Barthel den Most holt, um in der bretonischen Apfelwein-Metaphorik zu bleiben.
Und jetzt kannst du dir auch irgendwie vorstellen, warum die Benediktiner nach ein paar Jahren Demut und Armut sich gesagt haben: Schön und gut, Demut, aber schließlich bist du jetzt so weit hier raufgelatscht, halbe Himmelfahrt Arbeitstitel, jetzt willst du als altgedienter Mönch auch ein wenig Himmel, quasi Vorschuss. Deshalb war es dann auch bald vorbei mit dem hierarchielosen Lotterleben und der Abt hat schön still und leise eine Ebene nach der anderen eingezogen mit einer angemessenen Dienstwohnung, Weinkeller, Chefkoch, Mixa asketischer Bettelmönch im Vergleich.
Und jetzt siehst du auch, warum diese gotischen Kirchen immer so genickstarrig hoch sein müssen: Damit du dir deine Träume von einem Leben anderswo da hinein projizieren kannst als 17-jähriger Frischling ohne Dienstwohnung, Weinglas und dann noch allen möglichen unkeuschen Gedanken im Hirn.
Und wenn du dann mit diesen Gedanken, neudeutsch Rollenspiel, durch die Abteikirche schleichst wie ein geprügelter Hund, raus in den Kreuzgang mit der versetzten Säulenreihe – ein Prototyp der anglo-normannischen Gotik – rüber ins Refektorium mit der raffinierten Beleuchtung durch zig schlitzartige, aber saalhohe Fenster und der mannshohen Sanduhr, die das Verrinnen der Lebenszeit symbolisiert – oder doch nur die Länge der Brotzeit des Abtes? –, runter in die Salle des Chevaliers, wo der Abt mit hohen Gästen Orgien gefeiert hat, dann kannst du dir immer noch nicht vorstellen, wie sich das mönchische Leben hier vor 800 Jahren angefühlt haben muss, als Engländer das Kloster 30 Jahre belagerten.
Aber du bekommst einen Riecher dafür, ganz so, als wenn du in deinem alten Gymnasium den abgefieselten Linoleumboden riechst und dir von ganz fern Bilder durch den Kopf gehen und du den Braten schon riechst, weil jetzt gleich der Direktor mit seinem albernen Lehrer-Lempel-Gang um die Ecke gestochen kommen muss… Alptraum Arbeitshypothese. Zeit für eine Abkühlung im Meer.
Resto-Tipp: Relais St-Michel
Das Gourmetrestaurant gehört zwar zur Sodetours-Kette, bietet aber auch wirklich einen sagenhaften Blick auf den Mont (guten Platz reservieren!). Sensationell schmeckt auch der bretonische Hummer mit Knoblauch-Tomatensauce. Auf dem Damm 2 Kilometer vor dem Mont, Telefon +33 (0)2 33 89 32 00.
Übernachten: Hotel Gué de Beauvoir
Dieses schöne Herrenhaus von 1850 am kleinen Fluss Couesnon drei Kilometer vom Mont entfernt bietet zehn reizende Doppelzimmer für 60 bis 90 Euro. 5, route du Mont St-Michel, Telefon +33 (0)2 33 60 09 23, www.hotel-gue-de-beauvoir.fr