Küstrin (dpa/bb) – Die Fische im Netz sind vermessen und gewogen. Eine Brasse, 50 Zentimeter lang und 1804 Gramm schwer, ist dabei und vor allem viele kleinere Exemplare der Art Zope. «Der erste Eindruck ist: Es ist nicht so schlimm, wie ich befürchtet habe», sagt Wissenschaftler Christian Wolter vom Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB). Der Fischbestand in der Oder erhole sich nach der Umweltkatastrophe im vergangenen Jahr wieder.
In Begleitung von Bundesumweltministerin Steffi Lemke (Grüne) war der Wissenschaftler am Dienstag für eine Schleppnetz-Befischung auf dem 12 Grad kalten Grenzfluss bei Küstrin an der polnischen Grenze unterwegs, um Daten zu sammeln. Nach dem Messen und Wiegen setzen die Forscher die Fische rasch wieder ins Wasser zurück.
Die Bundesumweltministerin sprach bei der Entwicklung des Fischbestandes von einem positiven Zeichen, denn im Herbst vergangenen Jahres hatten die Experten noch massive Verluste registriert. Doch die Sorgen bleiben: «Um Entwarnung zu geben, ist es definitiv zu früh», meinte Lemke, die sich auf dem Forschungsschiff über die Arbeit der Wissenschaftler informierte.
Sie habe die bedrückenden Bilder von unzähligen Fischkadavern an den Ufern der Oder noch vor Augen und befürchte, dass sich die Umweltkatastrophe in diesem Sommer wiederhole, sagte Lemke. «360 Tonnen waren es wahrscheinlich», sagte sie zur Menge der eingesammelten toten Fische. Auch viele Muscheln überlebten nicht.
Im August vergangenen Jahres war es im deutsch-polnischen Grenzfluss zu dem massenhaften Fischsterben gekommen. Die Fachleute gehen davon aus, dass hoher Salzgehalt, Niedrigwasser, hohe Temperaturen und das Gift einer Algenart mit den Namen Prymnesium parvum wesentliche Ursachen für das Fischsterben waren.
Auch am Dienstag stellte der Fischökologe Wolter mehrmals erhöhte Salzwerte im Gewässer fest – einen elektrischen Leitwert von mehr als 1000 Mikrosiemens je Zentimeter. Der Richtwert liege bei 1000, damit die Goldalge nicht wachse, sagte der Experte. Der Salzgehalt sei per se nicht besorgniserregend gewesen und nicht schädlich für die Tiere. Doch das war vor der Umweltkatastrophe und dem Auftreten der toxischen Alge. «Man ist erstmal sorglos damit umgegangen, die Zeit ist vorbei», meinte Lemke. Die Goldalge ist inzwischen laut Wolter auf 300 Kilometern Länge in der Oder vorhanden.
Umweltpolitiker dringen seit längerem auf einen besseren Schutz des Flusses in Zeiten der Klimakrise und auf einen Stopp des Oderausbaus, wie ihn Polen vorantreibt. Die Zusammenarbeit mit dem Nachbarland gilt aber auch nach der offenen Kritik an der Aufklärung der Umweltkatastrophe als äußerst schwierig.
Lemke sagte, sie vermute, dass die polnische Bergbauindustrie für die Salzeinleitungen verantwortlich sei, die im vergangenen Sommer zu den erhöhten Belastungen geführt hätten. «Es wird langsam Zeit, dass man es aufklärt und dass die Einleitungen reduziert werden.» Nach einem Greenpeace-Bericht äußerte sich einer der beschuldigten polnischen Bergbaukonzerne und wies im März die Vorwürfe zum Oder-Fischsterben zurück.
Ministerin Lemke nennt es einen Irrweg, den bislang noch naturnahen Fluss etwa für die Schifffahrt weiter auszubauen. Die Regeneration der Oder müsse Vorrang haben. Auch die EU-Kommission müsse sich dem Problem annehmen.
Zudem sieht Lemke Verkehrsminister Volker Wissing (FDP) am Zug, der für die Wasserstraßen zuständig ist. Sie hofft, dass auch er sich dafür einsetzt, dass der Oder-Ausbau erst einmal ruht. «Es braucht ein Moratorium», sagte Lemke mit Blick auf ein deutsch-polnisches Abkommen, das 2015 zur Situation an den Wasserstraßen geschlossen wurde. Dabei ging es um Themen wie Hochwasserschutz und auch die Schifffahrt.
Den Gesprächsfaden zu ihren Kollegen in der polnischen Regierung will Lemke aber nicht abreißen lassen. Das Umweltministerium bereitet etwa eine Oder-Konferenz im Juni vor, bei der auch die polnische Seite beteiligt werden soll.
Dennoch ist das Klima angespannt, vor allem auch weil Polen trotz eines gerichtlich angeordneten Ausbaustopps die Arbeiten an Buhnen – einer Art Dammbauwerke auf dem Fluss – nicht beenden will. Lemke und die Wissenschaftler auf dem Forschungsschiff, das von Küstrin stromabwärts unterwegs war, konnten die Baggerarbeiten selber beobachten.