Machen wir uns nichts vor. Da können wir noch so blasiert durch geschwärzte Ray-Ban-Sonnenbrillen lugen, uns in der Regent-Street nach allen Regeln des Understatement maskieren, herablassend falsche Antiquitäten am Portobello-Road-Market taxieren, uns Yo!Sushi im Harrod’s hinter die Kiemen schieben – den echten Englishman nimmt uns nicht einmal der tolerante Sting ab. Versuchen wir also erst gar nicht, uns so gut es eben geht dem britischen Humor auszuliefern, sondern geben wir es offen zu: Wir sind bloody stupid tourists und flehen unsere royalen Gastgeber um Hilfe an: Wo verdammt noch mal auf dieser fußmörderischen Fläche von gut und gern 1500 Quadratkilometern versteckt ihr eure hippen Insidertipps, als ob ihr von uns gemütlichen, übergewichtigen Krauts noch immer einen „Blitz“ zu erwarten hättet? Wir kommen in friedlicher Absicht, versprochen, zu mehren euren durch die Finanzmarktkrise schwindenden Wohlstand, zu füllen eure Pubs und Restaurants und Shop-Kassen, zu bestaunen eure abgefahrensten Kunstneuheiten und Kronjuwelen und zu singen das Loblied auf die Queen, deren Ruf seit Dodi und Di gelitten hat, die ihr aber trotzdem nicht auf die British Virgin Islands abzuschieben gedenkt!
Top-Five der London Klischees
Es ist gut in so einer Stadt Freunde zu haben. Wir haben die Beste, die wir uns wünschen können: Diana, der Name ist Programm. Und unsere Lady Di sieht noch dazu gut aus, war in der Independent Szene, oder was wir dafür halten, beheimatet und hat früher in der Tourismusbranche gearbeitet. Diana weiß, wie der Hase läuft, und das wir hören wollen: „Nein, Fish und Chips sind schon lange nicht mehr die ausschließliche Diät aller Stadtbewohner zwischen zwei und 99 Jahren!“ Und: „Nein, den männlichen Eingeborenen erkennt man nicht zwangsläufig an Bowler Hat und Umbrella und die rothaarigen Weibchen sind nicht per englischem Gewohnheitsrecht verpflichtet, ihr blasses Antlitz unter burkalesken Hüten zu verbergen!“ Und: „Ja, es gibt in London auch Tage, an denen es weder regnet noch alle Passanten benebelt sind!“ Und: „Nein, die rotgewandeten Zinnsoldaten blicken nicht deshalb so betröppelt, weil der gesamte königliche Nachwuchs im Buckingham Palace seinen Schlagzeug-Unterricht gemeinhin auf den schwarzen Felltrommeln über deren winzigen ausdruckslosen Gesichtern absolvieren würde.“ Und: „Ja, es ist richtig, dass die zu Smalltalk aufmunternde Nachfrage am Ende eines Satzes immer den Hauptsatz konterkariert, tut er nicht?“ Derart gegen die Top-Five der London-Klischees gewappnet können wir uns jetzt endlich den wirklichen Sinn-Fragen stellen: Waren wir in London, oder waren wir es nicht, wenn wir den Tower, Big Ben oder Madame Tussauds Wachsfigurenkabinett nicht besucht haben?
Lassen Sie es uns so sagen: Es wird uns auf unserer Suche nach dem Sinn des Lebens und der Frage, was die Londoner Welt in ihrem Innersten zusammenhält, um keinen Pfifferling weiterbringen. Aber es wäre schön bescheuert, sich die Wahrzeichen des retired Empire entgehen zu lassen, und stattdessen in einer Filialisten-Road zu shoppen, nur weil käsfüßige Modereporterinnen von Focus, Fit for Fun oder Esquire dies ihren glotzäugigen Leserinnen als dernier cri verkaufen wollen. Nun gut, man könnte schon seinen letzten Schrei absondern, wenn ein paar Stilettos, die aussehen wie von Hempels unterm Schuhschrank, bei Manolo Blahnik in der Old Church Street 1480 Pfund im Ausverkauf kosten, nur weil die Plastikblendnaht handgemalt ist. Aber merken Sie sich: Absätze machen die Mehrheit der Männer, die wir so kennen, nicht wirklich horny und sind – auch wenn diese Vorstellung bei einschlägigen Frauen-Serien genährt wird – kein befriedigender Ersatz für guten Sex. Apropos: Sex in the City bekommt man bei Coco de Mer in der Monmouth Street übrigens schon für … aber das ist ein anders Kapitel.
Wo Künstler noch echte Künstler sind
„Alles Ersatzbefriedigung“, weiß unser tougher Girl-Scout, und führt uns dahin, wo Künstler noch echte Künstler – griesgrämig, wirrmähnig, schalgewickelt – und Galerien noch echte Galerien sind: leer, weiß, weiß-der-Teufel-was-hier-das-Kunstwerk-ist. Diana nimmt uns die Scheu vor dem großem Nichts der Afterpostmoderne: „Es gibt unter den 14 Millionen Einwohnern der Metropolitan Area keine vierzehn Kunstkenner, die einen Überblick über die paar hundert Galerien haben, die Gegenwartskunst zeigen.“ Und von denen wahrscheinlich nicht mal 1,4, – außer vielleicht Prince Charles und der hat mehr Zeit als wir –, die die paar tausend Ausstellungen im Kalender der Contemporary Art’s Society richtig gewichten können. Macht überhaupt nichts, wir trotten brav hinter Diana in die Wilkinson Gallery, eines der artistischen Flakschiffe, die die Industriebrachen des East End zum Sitz der Kunst-Avantgarde transformierten. Voilà, so haben wir uns das vorgestellt: hohe weiße Ruhmeshallen, der Walhalla nicht unähnlich, nur dass uns die Namen in den Bilderlisten nicht ganz so vertraut sind. Kein Grund, hier nicht unser ganzes, sauer Erspartes auszugeben. Seitdem Damien Hirst, Mitbegründer des BritArt der 1980er Jahre und Schöpfer des diamantbesetzten Totenschädels – bei einer Versteigerung justamente am gleichen Tag, als die Nachfahren der Lehman-Brothers vor die Hunde gingen, zehn Millionen von Sotheby’s einstrich, wissen wir: Kunst ist sexy, denn sie macht reich. Und Kunstkauf ist nicht riskanter als Schuhfetischismus, Finanzspekulation oder Greyhound-Wetten.
Jetzt aber wieder interessant: Gerade als wir uns so richtig im Eye of the Tiger – nicht zu verwechseln mit dem London Eye, dem Riesenrad, an der South Bank des Themse-Ufers – der pulsierenden Metropole fühlen, gewissermaßen auf du und du mit David Beckham und Kate Moss, da holt uns Diana gnadenlos zurück auf den Boden der Tatsachen des Mr. Bean: „Die Raben krächzen es schon vom Tower, dass die Pop-Art Vorhut die Seite wechselt.“ Bald schon könnte es sich wieder ausgeostet haben – was jetzt keine Anspielung auf die tiefsitzende Angst des christlichen Abendlandes und seinen geosteten Kirchen vor den nach Mekka ausgerichteten Moscheen sein soll. Immerhin ist London das Zentrum des Islam in Großbritannien – kein Wunder bei der Kolonialgeschichte des Mittelpunkts des Commonwealth. Nein, seit die White Cube Gallery einen Teil ihrer Kuben ins West End verschoben hat, herrscht Panik im Wilden Osten: Soll das alles gewesen sein? Erst wird das Viertel genrtyfiziert, bis sich die Mieten im Hackney-Viertel kein anständiger Redneck oder cracksüchtiger Kunstfälscher mehr leisten kann und dann zieht die Karawane weiter bis zum Schluss nur noch dumm glotzende Touristen nach Souvenirs und Postkartenmotiven Ausschau halten? Wäre nicht das erste Mal: Auch an den Docklands oder der Southbank ist der Fluch des kurzfristigen Hypes nicht spurlos vorübergegangen. Schon verwüstet Bürgermeister Brian Johnson wie ein Ackergaul ein gigantisches Terrain im ehemaligen Armenviertel für die Olympischen Spiele 2012 – schließlich hat der Mann, der Londons feuerroten Doppeldeckerbussen zu einem Comeback verhelfen will, bei der Abschlussfete der Sommerspiele in Peking den gesamten Fernen Osten ins Londoner East End geladen. Natürlich mit dem Fahrrad.