Dwingeloo (dpa/tmn) – Die Sonne brennt aufs Land. Über der Heide flirrt die Luft. Keine Wolke steht am Himmel. Seit sechs Uhr früh ist Annelies van Niekerken (66) unterwegs, ihre 650 Drenther Heideschafe ziehen knabbernd durchs Gras- und Heideland. Stille und Weite unter einem hohen Himmel, der wirklich unendlich scheint.
Van Niekerkens Herde ist eine von dreien im Nationalpark Dwingelderveld. An die 1500 Tiere sorgen dafür, dass die offene Landschaft mit Glocken- und Besenheide, Kräutern und Pfeifengras erhalten bleibt. Van Niekerken sagt: «Ohne die Schafe würden sich bald Birken ansiedeln und die ursprüngliche Heide zerstören.» Die Tiere sind hier also die Naturpfleger.
Die Zeit scheint stehen geblieben zu sein im Dwingelderveld, auf halbem Weg zwischen Zwolle und Groningen, gar nicht so weit von der deutschen Grenze entfernt. Mit knapp 38 Quadratkilometern ist es das größte Feuchtheidegebiet in den Niederlanden, mehr als 60 Moortümpel und Torfmoore gibt es hier.
Für Wanderer und Radelnde wird die Landschaft durch mehrere gekennzeichnete Routen gut erschlossen – etwa die 36 Kilometer lange Holtveen-Radroute, die auch zum Radioteleskop Dwingeloo führt. 1956 wurde die Antennenschüssel errichtet, damals war sie mit 25 Meter Durchmesser weltweit die größte ihrer Art.
Ländliche Idylle und alte Hünengräber
Geschichten aus Vergangenheit und Gegenwart treffen hier, in der niederländischen Provinz Drenthe, immer wieder aufeinander. Für viele deutsche Urlauber ist die Gegend dennoch ein weißer Fleck – man fährt halt durch auf den Autobahnen in Richtung Nordsee, das war‘s.
Dabei entführen die Dorfbilder von Dwingeloo, Lhee, Ansen und dem autofreien Museumsdorf Orvelte mit ihren reetgedeckten Wohnhäusern und Bauerngehöften in ländliche Idylle. Dörfer, Heide, Moor, kleine Wälder und Kuhweiden, all das entschleunigt.
Drenthe trägt aus gutem Grund den Beinamen «Ur-Provinz der Niederlande». Denn auf dem Höhenzug Hondsrug (Hünenrücken) zwischen Groningen und dem Flecken Weiteveen finden sich 52 Hünengräber, links und rechts entlang der heutigen Nationalstraße N 34.
Die mächtigen steinernen Monumente sind in der Jungsteinzeit zwischen 3.400 bis 2.950 v. Chr. als Grab- und Kultstätten entstanden. Sie gelten als die ältesten Sehenswürdigkeiten der Niederlande.
Das Geheimnis der Steinbrocken
Das Hunebedcentrum – Hünengrabmuseum – in Borger entführt die Besucher anschaulich in diese Vergangenheit. Wie konnten die Menschen vor tausenden Jahren diese eiszeitlichen Steinklötze aufstellen?
Museumsguide Harry W. te Horst (74), ein pensionierter Banker, erklärt es: «Sie schichteten Hügel an und bewegten die Steine auf Holzrollen mit Muskelkraft auf die Anhöhen. Nachdem die Seiten- und Deckensteine positioniert waren, wurde die Erde darunter entfernt und höhlenartige Kammern entstanden.»
Beim Rundgang führt Harry W. te Horst seine Gäste zum allergrößten Drenther Hunebed, ein paar Schritte vom Museum entfernt: 22,6 Meter lang, vor knapp 5000 Jahren errichtet. «Der Deckenstein dieses Grabes wiegt allein 20 Tonnen», sagt te Horst. Was für eine Masse.
Die Armenkolonien, die Perspektive gaben
Weiter geht die Drenther Zeitreise, wir sind im 19. Jahrhundert. Bittere Armut herrschte damals in den Niederlanden, Familien litten unter Hunger und Arbeitslosigkeit. Rettung versprach General Johannes van den Bosch. Der sozial engagierte Adlige verfolgte den Gedanken: Wer Arbeit hat und ein eigenes Stück Land bewirtschaftet, der kann sich selbst aus der Notlage befreien.
In Frederiksoord siedelten sich 1818 die ersten Familien in einer Armenkolonie an. Weitere Kolonien folgten in Wilhelminaoord und Veenhuizen. Den Siedlern wurden komplett ausgestattete Katen, jeweils ein Hektar Land und Handwerkszeug von der Wohltätigkeitsgesellschaft Maatschappij van Weldadigheid als Darlehen bereitgestellt. Durch harte Arbeit konnten die Kolonisten im Laufe der Jahre die Schulden tilgen und zu freien Bauern werden.
Interessant: Zu jener Zeit gab es für die Kinder dort bereits Schulunterricht – 80 Jahre vor der allgemeinen Schulpflicht in den Niederlanden. Im Frederiksoorder Museum De Proefkolonie wird diese Geschichte multimedial anschaulich vermittelt. Seit 2020 sind die Armenkolonien auf der UNESCO-Welterbeliste verzeichnet.
Als van Gogh sich von Drenthe inspirieren ließ
Ist er grade zum Mittag gegangen? Hat nur mal eben eine Pause eingelegt vom Malen? Fast scheint es so. Pinsel und Farbkleckse im van-Gogh-Huis in Nieuw-Amsterdam – Veenoord erinnern an den weltbekannten Künstler, der hier ab dem 11. September 1883 in der Pension von Familie Scholte fast drei Monate lang lebte und in dieser Zeit malte und zeichnete.
Die Bilder zeigen hart Arbeitende auf dem Feld, die Kirche von Zweeloo, Moortümpel und Bauersfrauen. Die Gemälde «Bauer verbrennt Unkraut» und «Der Torfkahn» entstanden in Drenthe.
Das Drents Museum in Assen zeigt genau 140 Jahre nach der Ankunft van Goghs in Drenthe ab Mitte September 2023 bis Anfang Januar 2024 die Ausstellung «Op reis mit Vincent» (Auf Reisen mit Vincent) und beleuchtet damit diese Lebensphase des Künstlers.
Die urtümliche Landschaft war prägend für Vincent van Gogh – an seinen Bruder Theo schrieb er: «Drenthe inspiriert mich, ein Leben lang zu malen. Es ist hier so ganz und alles was ich schön finde. Das heißt hier herrscht Frieden.» Radelnde können die Landschaft auf den Spuren van Goghs auf drei neuen Radrouten erkunden, die jeweils um die 50 Kilometer lang sind.
Erinnerung an ein Jahrhundertverbrechen
Das düsterste Kapitel in der Geschichte von Drenthe wird zwischen 1942 und 1945 im Durchgangslager Westerbork geschrieben.
107 000 Juden – drei Viertel der jüdischen Bevölkerung in den Niederlanden – sowie Sinti und Roma werden von hier von den Nazis mit Zügen in die Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau, Bergen-Belsen, Sobibor und Theresienstadt deportiert – nur rund 5000 überleben.
«107 000 unterschiedliche Geschichten, die jeden Besucher berühren», sagt die Geschichtsforscherin und Journalistin José Martin (60), die in der Gedenkstätte Namen und letzte Briefe der Lagerinsassen an Angehörige dokumentiert. Unter den Opfern sind die jüdische Philosophin Edith Stein und Anne Frank, die im September 1944 von Westerbork nach Auschwitz deportiert wird.
Dokumente und Fotos zeigen eindrücklich, wie das Leben in diesem «Portal zur Hölle» ablief. Nachdenklich verweilen Besucher vor dem blechernen Zuglaufschild Westerbork-Auschwitz, Auschwitz-Westerbork.
Wenige Kilometer vom Museum entfernt liegt das eigentliche Lager: Kleine Erdhügel erinnern an die einstigen Standorte der Baracken, man sieht zwei Eisenbahnwaggons und ein Stück Bahngleise. Und 102 000 kleine Stelen – eine für jeden ermordeten Deportierten.
Info-Kasten: Drenthe
Reiseziel: Die niederländische Provinz Drenthe liegt westlich des deutschen Emslandes. Es gibt drei Nationalparks mit Heidegebieten und Wäldern: Dwingelderveld, Drents-Friese Wold und Drentsche Aa. Provinzhauptstadt ist Assen, bekannt durch Motorradrennen.
Anreise: Mit dem Auto über die A 31 (Oberhausen-Emden), Abfahrt Meppen, von dort über die B 402/A 37 Richtung Hoogeveen und Assen. Mit der Bahn über Zwolle bis Hoogeveen und Assen.
Unterkünfte: Landhotels, B&B, Ferienparks und Campingplätze mit Baumhäusern, die Auswahl ist groß.