„Wollt ihr was Schönes sehen“, fragt René Woudstra auf Englisch, und wir gehen wie die Schafe hinterdrein – in der Erwartung, der Ladenbesitzer würde uns jetzt den Heiligen Gral des „Lammskin“-Handwerks zeigen. Angesichts unserer erwartungsvollen Mienen zeichnet sich eine gewisse Ratlosigkeit auf dem offenen Gesicht des 37-Jährigen ab. Ach so, das war eine Feststellung. Gut, dann haken wir eben nach. „Machst du das alles selbst?“, fragen wir anerkennend. „Das macht alles meine Frau Leonie“, strahlt er und einer der drei Dreikäsehochs lauscht aufmerksam.
Am nördlichen Zipfel
Wie man das wohl lernt, gibt es dafür etwa eine Art Schafsfellverarbeitungshandwerk? „Nee, nee, man probiert es aus, learning by doing.“ Ob er ein eingeborener Gotländer sei, wollen wir wissen. „Nej, wir sind aus Holland.“ Du meine Güte, denken wir, da suchen wir die Wiege des traditionellen Gotländischen Handwerks und finden am nördlichen Zipfel der beliebtesten Urlaubsinsel der Stockholmer eine niederländische Auswandererfamilie. „Und ihr seid Franzosen?“, fragt René zurück. An unserem Pariser Akzent kann’s ja eigentlich nicht liegen. Eher schon an der Frage: „Röné mit Akzent auf é?“ Da sieht man mal, wie gut wir Europäer uns inzwischen kennen. „Hej, das hättet ihr gleich sagen können, dann hätten wir Deutsch sprechen können“, lacht René, „wir haben zehn Jahre in Niedersachsen gelebt.“
Was für eine Geschichte. René ist seines Zeichens auch nicht gerade mit Schafen groß geworden. „Ich hatte eine Internetfirma“, sagt der Ex-Nerd, „lief ganz ordentlich, vor allem die Banken zahlten vor dem Crash ganz gut für Anzeigen.“ Aber dann wurde es mühsamer: „Ich bin nicht der Typ, der bei den Bankern betteln geht.“ Entweder 100 Prozent virtuell und 100 Prozent naturell, dazwischen gibt’s nichts. Da trifft es sich gut, dass seine Frau Leonie eine gelernte Öko-Landwirtin ist. Die beiden machten sich auf die Suche nach geeigneten Grundstücken. „In Holland ist alles auf maximalen Ertrag ausgelegt, da kannst du dir keinen Boden leisten.“ Sie suchten in Norddeutschland, wo sie erst mal hängenblieben. Als es ihnen dort zu eng wurde, suchten sie weiter im wilden Osten – Polen, die baltischen Staaten, Finnland.
Finnischen Fisch zum Geburtstag
„In Finnland hat es mir eigentlich am besten gefallen“, schwärmt der umgeschulte Jungbauer, „Wahnsinnsnatur, und weg von der Küste, im Landesinneren gibt es praktisch keine Touristen.“ Die Leute seien baff gewesen, dass da plötzlich Fremde auftauchten und sich für ihr Land interessierten. „Da ist der kapitalistische Westen noch nicht angekommen“, meint René, „man teilt alles“. Das müsse man sich vorstellen. Das Leben sei hart und karg, ein Fischer mache vielleicht einmal in der Woche einen großen Fang. Das müsse dann reichen für die nächsten sieben Tage. „Dann bekommt der mit, dass unser Sohnemann Geburtstag hat und schenkt uns einfach diesen Riesenfisch“, deutet er mit den Händen einen kapitalen Barsch an, „einfach so. Gibt es so was bei uns noch?“
Wenn da nur diese finno-ugrische Sprache nicht wäre: „Du fährst an einem Schild vorbei und kapierst noch nicht mal, dass das ein Gasthaus ist“, stöhnt René. Vom Hören-Sagen ganz zu schweigen. „Klingt für mich wie chinesisch.“ Selbstredend, dass die Binnenland-Finnen zu „90 Prozent“ kein Englisch verstünden. „Sie sind alle super nett, aber so kann man nicht arbeiten.“
Frisch gebackene Großgrundbesitzer
Also fiel die Wahl auf Gotland: „Niederländisch und schwedisch ist nicht so weit auseinander“, nennt er einen Bonuspunkt. Und dann hat die junge Großfamilie auch noch genau das gefunden, was ihnen vorschwebte. „Das Grundstück ist geradezu lächerlich groß“, zeigt der Großgrundbesitzer bis an den Horizont, „2000 Hektar mit Wäldern, Weiden, Wiesen, Feldern.“ Dazu komme der gut erhaltene Hof mit den schönen, zum Teil 200 Jahre alten Gutshäusern. Ob es denn günstig gewesen sei? „Was ist günstig?“, fragt er zurück, „was ist günstig?“, und ich muss an Oliver Pochers van-Bommel-Parodie denken und an die Sch´tis. „Hää, was ist günstig? Wenn du es am möglichen Ertrag bemisst, ist es nicht günstig. Wenn du es an der Zahl der Hektar misst, ist es günstig – für uns kommt es nicht darauf an, möglichst viel aus dem Boden rauszuholen, sondern den natürlichen Kreislauf aufrechtzuerhalten.“ So können die Gotland-Schafe das ganze Jahr über wandern, so weit das Auge reicht, und sich an leckeren Kräutern laben.
„Wir sind ein Familienbetrieb und leben so gut wie autark“, sagt der Holländer. Alles, was sie zum Leben brauchen, stellen sie selbst her. Und Ansprüche, die darüber hinaus gehen, können sie mit ihren Produkten erwirtschaften. „Hier wirst du nicht reich“, sagt der Aussteiger, aber das Leben ist wie Urlaub.“ Das ist es, was die begeisterten Gotland-Einsteiger den Besuchern vermitteln möchten: „Macht die Augen auf, schaut euch Flora und Fauna an, fahrt nicht einfach daran vorbei.“ In der Tat, wer es auf Gotland eilig hat, der übersieht das Wesentliche. Dem entgeht, dass es auf diesem flachen, manchmal kargen Land mehr als 100 vom Aussterben bedrohte Pflanzenarten und 80 geschützte Tierarten gibt.
Wenn der Seeadler das schwächste Lamm holt
„Wenn du mal siehst, wenn der Seeadler runterkommt und sich ein Schaf holt“, schildert der Ökologe ergriffen das Naturschauspiel und breitet die Arme aus, um annähernd den Schatten zu nachzuahmen, den der Raubvogel auf das entsetzte Jungschaf wirft, „das ist Wahnsinn. Wir haben hier allein 15 Nester.“ Ob da nicht der Schutzreflex des Schäfers einsetzt? „Nej, überhaupt nicht. Das gehört zum Kreislauf der Natur. Der Adler holt sich das schwächste Lamm und tut uns damit sogar einen Gefallen.“ Immerhin sind es dann noch 699 Lämmer, mithin also genug für die Zucht. „Wir haben Stammgäste, die zählen jedes Jahr die Orchideenarten, die sie finden“, freut sich René über Besucher, die seine Begeisterung teilen. „Sie fotografieren jede neue Pflanze. ,Heuer waren es 51‘, haben die sich gefreut!“
Es ist nicht alles eitel Sonnenschein auf Gotland. Klar, im Sommer, wenn die 50.000 zumeist schwedischen Touristen auf die Insel einfallen, dann gibt es genug zu tun im Öko-Café. „Wir stellen alles selbst her, auch die Eiswaffeln, weil du keine fertigen aus rein ökologischen Zutaten bekommst“, erzählt der Nebenerwerbswirt. „Dann sitzen wir alle bis Mitternacht und backen Eistüten.“ Es ist die Saison, um das eigene Schwedisch aufzupolieren. „Im Winter ist hier niemand. Unsere Nachbarin ist die einzige und die verstehen selbst die Schweden nicht.“ Und wie sieht’s mit den Kindern aus? „Das wird langsam“, zögert René. Aber das ist ein Kapitel für sich.
Holländer beseitigen Gotländer Lehrermangel
Als sie vor zwei Jahren mit den vier Kindern ankamen, habe das Schulwesen auf Gotland darniedergelegen. So sehr das skandinavische Modell auch gefeiert wird, an den dünnbesiedelten Rändern plage die Schweden ein eklatanter Lehrermangel. „Da haben Hausfrauen in der Grundschule unterrichtet“, behauptet der Zuwanderer, „das geht doch nicht. Ich meine, nichts gegen die Hausfrauen, die haben ihr bestes getan, aber die haben doch keine Ausbildung.“ Was habe da der aufgeklärte Weltbürger getan? Er habe sich an das in der schwedischen Verfassung niedergelegte Grundrecht auf gleiche Bildung für alle erinnert und nach Stockholm geschrieben.
Unerhört für schwedische Verhältnisse. „So was macht man hier eigentlich nicht. Die Schweden kritisieren ihren Staat nicht gerne.“ Das Ergebnis sei freilich keineswegs eine Abwehrreaktion gegen die frechen Wahlgotländer mit orangenem Migrationshintergrund gewesen. „Die Stockholmer haben die Mittel zur Verfügung gestellt und wir haben jetzt ausgebildete Lehrer.“ Und wie hätten die alteingesessenen Nachbarn das empfunden? „Die Eltern haben sich gefreut.“ Das sei im Sinne des Nachwuchses auch dringend notwendig, meint René, schließlich drohe die Insel zu überaltern. „Viele wissen und sagen das auch: Wir brauchen frisches Blut.“ Die sechsköpfige Familie aus den Niederlanden hat den Anfang gemacht: Sie ist im gemeinsamen Haus Europa von der bequemen Etagenwohnung Holland in einen geräumigen, aber etwas verlassenen Vorgarten gezogen.
Kein Camping für Warmduscher
Sie haben hier investiert und sich eingemischt, wie europäische Bürger das tun können und sollen. „Ich hoffe, dass andere nachkommen“, lädt der inoffizielle Integrationsbeauftragte aufbruchswillige Nachahmer ein. Um etwaigen Neuzuzüglern das wilde Naturleben auf Gotland schmackhaft zu machen, haben die Farmer ihr Land jetzt auch für Camper geöffnet: „Das ist kein Campingplatz mit Duschen und sanitären Einrichtungen“, warnt René Warmduscher vor falschen Erwartungen, „wir haben die schönsten Wiesen und Weiden, wo man die Zelte aufstellen kann.“ Es gehe nicht darum, mit den zehn Euro pro Kopf und Zelt neue Einnahmequellen zu erschließen. „Wir möchten, dass die Leute länger hierbleiben. Nur so bekommt man was mit.“
Und schon schickt uns René freundlich aber bestimmt – wie es nur ein van Bommel kann – auf einen Erkundungsspaziergang. „Nej, nej, geht nur. Lasst das Auto stehen. Da vorne an den Feldern vorbei, ganz rauf zu dem Wald, da ist die Feuerstelle und der schönste Platz für die Camper – und da findet ihr jede Menge seltene Blumen.“
Sie drehen die Preisspirale zurück
Und wo sie schon mal dabei sind, die schlafende Insel sanft zu erwecken, möchten die Holländer auch einen anderen Trend rückgängig machen: Sie wollen die Preisspirale zurückdrehen. „Früher gab es auf Gotland viele deutsche Touristen. Alle Broschüren und Infotafeln waren ins Deutsche übersetzt.“ Dann hätten die reichen Stockholmer die Insel für sich entdeckt. Gotland war plötzlich in und die Mittelklasse aus der schwedischen Hauptstadt folgte dem Trend. „Die Preise zogen rapide an, die Insulaner merkten, dass sie in nur zwei Monaten das Geld fürs ganze Jahr erwirtschaften konnten.“ Die deutschsprachigen Beschreibungen seien peu à peu verschwunden, die weniger betuchten Gäste ausgeblieben. „Wir halten das für einen großen Fehler. Es ist doch besser, wenn sich der Besuch aufs ganze Jahr verteilt.“
„Warum muss ein Kaffee 40 Kronen kosten?“, versteht der Ökonom im Ökologen die schwedische Welt nicht mehr. „Wir verlangen 20 Kronen. Geht doch.“ Man müsse eben, wie überall in der Gastronomie, günstig einkaufen und gut planen. Die hohen Preise bei den Lebensmitteln seien der Monopolstellung im Handel geschuldet. „Es wird Zeit, dass hier mehr Leute auf die Idee kommen, ihre Produkte auf den Markt zu werfen.“ Dabei ist René alles andere als ein Marktradikaler. Im Gegenteil, dem dritten Weg zwischen Kommunismus und Kapitalismus kann der Ex-IT-Experte einiges abgewinnen. Nur wenn’s an die Taschen der kleinen Leute geht, hört der Spaß auf. Und das ist ja nicht gänzlich unmarxistisch: die Produktionsmittel in die Hände des Volkes und Festplatten zu Pflugscharen.
Visbys politische Woche
Anregungen dazu holt sich Leonie ter Veer mit der ältesten Tochter gerade in Visby, wo Schwedens Politik-Elite beim traditionellen Jahrestreff nach Mittsommer die Perspektiven der schwedischen Gesellschaft mit Prominenz aus Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft diskutiert – es würde uns nicht wundern, wenn dabei auch ein Vorschlag aus einen kleinen Dorf in Nordgotland aufgegriffen würde.
René hält, ganz Naturbursche, naturgemäß nicht so viel von dem Spektakel und der UNESCO-Welterbe-Stadt hinter den mittelalterlichen Mauern: „Ist ja alles ganz nett, die Mauer und Türme. Aber alles halt vor allem Kommerz.“ Es müsste mehr Vielfalt geben in den vielen Läden der einzigen Stadt auf der Insel. Vor dem geistigen Auge sieht man ihn bereits eine mondäne ökologische Boutique zwischen den Souvenir- und Schuhläden der Kommissarin Irene Hus einrichten. Wir freuen uns darauf.