Alle zehn Jahre häutet sich diese Stadt: 1990 nach wieder gewonnener Freiheit, stand Wroc?aw da wie gerupft nach einer großen Mauser. Stolz reckte wie unvergänglich das Renaissance-Rathaus seinen Maßwerkgiebel über alle Fassaden des Rynek, des Rings. Außenrum schien die Zeit stehengeblieben, Kriegswunden, provisorische Reparaturen, neue städteplanerische Schneisen. Zehn Jahre später gewannen die Fassaden an Farbe, viele Wunden waren verheilt, die Bruchstücke wuchsen zusammen. Heute, ein gutes Jahr bevor Breslau 2016 als Europäische Kulturhauptstadt amtiert, haben Studenten und Gäste die Stadt auch nachts wachgeküsst – selbst unter der Woche ist das Treiben auf den Altstadtplätzen und in den Gassen fröhlich wie in Barcelona, Bologna, Bordeaux, Brünn oder Brügge.
Herrscher kommen und gehen, die Stadt bleibt
Die niederschlesische Metropole erfindet sich eben immer wieder neu. Wroc?aw, die Stadtgründung des böhmischen Herzogs Vratislav I. und Namensgebers, ausgebaut von den polnischen Piasten, 1241 von Tataren zerstört, neu erstanden unter Magdeburger Stadtrecht, fiel unter Kaiser Karl IV. Mitte des 14. Jahrhunderts wieder ans Königreich Böhmen. Unter Habsburger Flagge von den Preußen erobert. Während der Weimarer Republik Hauptstadt der Provinz Niederschlesiens – im Zweiten Weltkrieg von den Nazis geschunden und zur Festung erklärt. Nach dem Krieg zurück in Polen unter realsozialistischer Ägide nationalisiert, blüht Breslau seit der polnischen Solidarno??-Revolution in Polens Dritter Republik als europäischer Phönix neu auf.
Troja vernichtete ein verheerender Bruderkrieg. Breslau/Wroc?aw überlebt alle nationalistischen Katastrophen. „Polen, Deutsche, Tschechen, Juden. Wir sind alle Schlesier, alle Breslauer. Cives Wratislaviensis“, schreibt Andzrej Zwada, Schriftsteller, Literaturwissenschaftler und Professor an der Universität Breslau. „Ich wohne seit 1966 in Wroc?aw, also schon recht lange, und doch will mein Hunger, diese Stadt kennen zu lernen, keineswegs abnehmen.“ Die Anzahl und Vielfalt der Neuerscheinungen über die Stadt sprächen dafür, dass es vielen Breslauern so gehe. „Es ist daher wohl keine Übertreibung zu behaupten, dass Wroc?aw zu Beginn des 21. Jahrhunderts zum Lieblingshelden seiner Einwohner geworden ist.“
1945 war Breslau Ground Zero
Zawada schwelgt in Roswitha Schiebs „Literarischer Reiseführer Breslau“: „Sehen wir uns das heutige Wroc?aw an. Ist es nicht schön? Spazieren wir über den Ring, der so farbenfroh und sauber ist wie wohl niemals zuvor. Unseren Blick erfreuen reich, aber geschmackvoll verzierte Renaissance- und Barockbauten. War er jemals so bunt und so gepflegt?“ Kaum jemand kann sich heute mehr vorstellen, dass sich hier vor 70 Jahren Ground Zero befand: „1945 war Breslau ein Trümmerhaufen. Einfach ein Haufen Trümmer. Ebenso gut kann man sagen, dass infolge des zweiten Weltkrieges Breslau überhaupt aufgehört hat zu existieren.“
Es sei nur ein Ort und die Erinnerung daran geblieben, dass sich hier bis vor kurzem eine in diesem Teil Europas bedeutende Stadt befunden hätte. „Nun musste man diesen Ort enttrümmern und eine neue Stadt bauen.“ Der Wiederaufbau der Stadt habe damit begonnen, dass aus Ruinen wieder Kirchen erstanden. „Manchmal entschied man sich sogar für den Aufwand einer fast vollständigen Rekonstruktion.“ Ein bemerkenswerter Vorgang: „Die Regierung eines sozialistischen Staates, für den die Säkularisierung der Gesellschaft eine politische Priorität ersten Ranges darstellt, scheute keine Anstrengungen, aus den Ruinen Breslaus zuerst die Prunkstücke der Sakralarchitektur in voller Pracht erstehen zu lassen.“
Rekonstruktion als Polonisierung
Doch die kommunistischen Herrscher hätten ganz im Sinne ihrer Ideologie gehandelt: Diese schönen gotischen Kirchen aus dem Mittelalter, dem 13. und 14. Jahrhundert, stammen aus einer Zeit, die in der offiziellen und stark propagierten Interpretation der Geschichte als Epoche der Piasten hingestellt wurde.“ Insofern rekonstruierte die damailige Stadtplanung keine Kirchen, sondern eine polnische Epoche. „Die liebevoll restaurierten gotischen Kirchen Wroc?aws sollten für die Einwohner und für die Welt nachdrücklich belegen, dass diese Gebiete, die damals im vollen Bewusstsein der suggestiven Kraft der Sprache als die »wiedergewonnenen« bezeichnet wurden, ursprünglich polnisch gewesen seien.
Schieb zitiert in ihrem literarischen Reiseführer den Breslauer Philosophen und Soziologen Norbert Elias 1984, der über das Breslau der Vorkriegszeit sagte, es sei „ganz und gar“ deutsch gewesen: „Ich habe dort nie ein polnisches Wort gehört.“ Mit dem gleichen Recht hätte man einen Einwohner des polnischen Breslaus unterden Piasten oder einen Studenten heute befragen können, und käme zu einem ganz anderen Ergebnis – es ist gut, dass in Wroc?aw wieder viele Sprachen gesprochen werden.