St. Martin (dpa/tmn) – «Koooooomm!» ruft Peter Hiery seine Schützlinge. Augenblicklich setzen sich sechs massige Rinder und ihre fünf Kälber aus allen Richtungen in Bewegung. Der Lockruf verheißt ihnen Äpfel, Karotten oder alte Brötchen am Zaun – ihr tägliches Ritual gegen 17 Uhr.
Wir sind mit Hiery auf Ochsentour am Sandwiesenweiher von St. Martin im pfälzischen Landkreis Südliche Weinstraße. Wir füttern die großen Grasfresser über den Zaun hinweg. Mit gehörigem Respekt.
Denn diese Tiere sind keine friedlichen Galloways, sondern Heckrinder: In den 1920er Jahren versuchten die Gebrüder Heck, aus verschiedenen Hausrindrassen den 1627 ausgestorbenen Auerochsen rückzuzüchten.
Die beiden Hecks – der eine Zoodirektor in München, der andere in Berlin – wollten mit gezielten Kreuzungen beweisen, dass Aussehen und Wildheit noch in den Genen der Nachkommen steckt, die heute dem Menschen als Nutztiere dienen.
«Auf den Ruf haben die Heckrinder von Anfang an gehört», sagt Hiery. Damit das so bleibt, hat er das 17-Uhr-Ritual eingeführt. Falls der Zaun mal repariert werden muss oder es einen Notfall gibt.
So wie an dem Tag, als eine Kuh mal auf den Hund eines Spaziergängers losging, der ihrem Kälbchen zu nahe kam. Glücklicherweise war Hiery in der Nähe und konnte die Kuh mit seinem Lockruf davon abhalten.
So gefährlich, dass sie nicht beim vertrauten Leckerli-Klang wegzulocken wären, sind die Heckrinder dann doch nicht geraten. Die heute «Abbildzüchtung» genannte Kreuzung ergab seinerzeit auch nicht ganz so stattliche Huftiere wie den mythischen Auerochsen bzw. Ur, der neben dem Wisent einst Europas größtes Landsäugetier war.
Robuste Landschaftspfleger
Anders als der NS-Politiker Hermann Göring vorsah, der die «Auerochsen-Nachzucht» in den 1930er Jahren für seine Großwildjagd in einer «urgermanischen Wildnis» im Visier hatte, werden Heckrinder heute wegen anderer Eigenschaften geschätzt.
Inzwischen weiß man, dass die robusten Rinder auf extensiv, also durch weniger menschliche Eingriffe bewirtschafteten Weiden selbstständige Natur- und Artenschützer sind.
Krankheitsresistent, widerstandsfähig und kältetolerant verwandeln sie verfallene Flächen in einen Lebensraum für viele verdrängte Tier- und Pflanzenarten. Einfach, indem sie herumstreunen und fressen wie einst der Auerochse in der nacheiszeitlichen Landschaft.
Ihre Trittspuren und Liegekuhlen bereiten den Boden für wichtige Kleinstlebewesen, die am Anfang der Nahrungskette stehen. Und ihre Ausscheidungen düngen das weitläufige Weidegebiet. Mit ihrem Fell und Kot verbreiten sie Pflanzensamen. Das Ganze nennt sich ganzjährige naturnahe Beweidung.
Zugleich brauchen die Tiere keine Medikamente, keinen Stall und keine Assistenz beim Kalben, höchstens ein paar Ballen Heu im Winter zum Zufüttern sowie alte Baumstämme zum Schubbern.
«Landschaftspfleger ohne Diplom und Gehalt», sagt Hiery über die Rinder. Und sie lieferten auch noch ein besonders zartes, aromatisches und cholesterinarmes Fleisch.
Bewahrung vor dem Verfall
Seit 2011 betreut Hiery am Westrand des Weindorfes St. Martin eine kleine Herde halbwilder Rinder. Seine Aufgabe: Einfach machen lassen und ab und an nach dem Rechten sehen. Alle ein paar Jahre führt Hiery ein Tier zum Schlachten oder in eine andere Herde, damit die Gruppe nicht zu groß fürs Weidegebiet wird und dann blutige Rangkämpfe ausgetragen werden.
Das Gebiet um den Sandwiesenweiher in St. Martin, in dem Forstwirtschaft und Sandabbau sich nicht mehr lohnen, drohte zu verfallen. Hier kommen die Tiere ins Spiel. Auf Führungen zeigt Hiery den Besuchern, wie die Rinder das 44 Hektar große Areal zu einer halboffenen Waldweidelandschaft umgestalten.
Zwar hat die Gemeinde die alten Holzfahrwege mit Trampelpfaden entlang der Zäune zu einem informativ beschilderten Rundweg samt Barfußweg und Picknickplätzen verbunden, den man auch selbstständig gehen kann.
Tour zu den Heckrindern
Doch auf Tour mit dem Fachmann erfährt man anschaulich, wie die Rinder es geschafft haben, den Boden der artenarm gewordenen Wiesen für Kräuter und Wildblumen zu bereiten, den verödeten Bachlauf wieder lebendig fließen zu lassen, das fast ausgetrocknete Moor wieder zu vernässen und den Wald zu lichten.
Hiery zeigt zum Beispiel, wo und wie die Rinder Jungbäume umlegen. «Als hätten sie einen Plan, wie der Wald gelichtet werden soll.» Bis heute haben sich Flora und Fauna nach seinen Worten verdreifacht.
«Alle Tiere, die in die Landschaft gehören, sind wieder da, nur der Hirsch fehlt noch», sagt er.
Mit Hiery an der Seite fühlt man sich sicher. Denn ein Teilstück des Rundgangs führt durchs Gatter direkt ins Weidegebiet. Zwar nehmen die stoisch grasenden Rinder keine Notiz von den Wanderern, die auf den Wegen bleiben und den gebotenen 40-Meter-Abstand einhalten.
Doch wer weiß, ob nicht jemand anderes den halbwilden Tieren auf der Suche nach dem optimalen Foto zu nahe kommt oder verbotenerweise mit einem Hund unterwegs ist? Dagegen ist die Nähe zu den Rindern beim Füttern am Zaun nach der ein- bis zweistündigen Tour risikolos.
Ein lautes «Koooooomm!» genügt, und schon sind sie da.
Info-Kasten: Ochsentour in St. Martin in der Pfalz
Der rund 4,5 Kilometer lange «Auerochsenweg» ist ausgeschildert und mit Infotafeln versehen. Infos zu der auch für Kinder gut schaffbaren Rundtour gibt es u. a. auf «suedlicheweinstrasse.de». Die Waldweide mit den Heckrindern gehört zum Biosphärenreservat Pfälzerwald-Nordvogesen.
Ein geführte Tour lässt sich über das Tourismusbüro von St. Martin buchen (Tel.: 06323/5300; E-Mail: tourismus@sankt-martin.de; Internet: «stmartin.suedlicheweinstrasse.de»).