Heiligenblut (dpa/tmn) – Der Monarchentitel ist nicht geschützt. Berggipfel wurden ebenso schon als König der Alpen bezeichnet wie Motorräder, die Passstraßen bezwingen. Selbst Rapper haben den Titel schon für sich in Anspruch genommen.
Nur auf der Kaiser-Franz-Josefs-Höhe, wo einst der Habsburger-Regent die Aussicht auf den Großglockner genoss, steht es außer Frage: König ist hier der Steinbock. Sobald die Besucher also Österreichs höchsten Gipfel ausgemacht und mit der Kamera festgehalten haben, begeben sie sich auf die Suche nach den seltenen Wildtieren.
«Wo sind die Steinböcke?» Das ist laut Ranger Georg Granig die zweithäufigste Frage auf der Wilhelm-Swarovski-Beobachtungswarte, hier am Ende der Großglockner-Hochalpenstraße im Nationalpark Hohe Tauern. Und die häufigste? Na, wo der Großglockner sei, natürlich. Wobei der von hier aus wirklich kaum zu übersehen ist.
Steinböcke zeigen sich selten – im Gegensatz zu Murmeltieren
Wenn sich der Steinbock dagegen hinter einer steilen Felswand schlafen gelegt hat, nützt auch das beste Fernglas nichts. «Das ist halt kein Zoo, etwas Glück braucht man schon», sagt Granig gleich zu Beginn der Steinbockbeobachtung, die am Glocknerhaus etwas weiter unten an der Hochalpenstraße losgegangen war.
Granig hat sich wohl angewöhnt, die Erwartungen seiner Gäste gleich zu Beginn etwas herunterzuschrauben. Noch hängt der Frühnebel in den Berggipfeln, auch da ist nichts zu machen.
Im Frühjahr lockt das frische Grün die Wildtiere schon mal in tiefere Lagen. Im Herbst, spätestens mit dem ersten Schnee, ziehen sie sich in die Nischen unterhalb des Gipfelgrates zurück – dank eines angeborenen Instinktes, der sie vor Lawinen schütze, so Granig.
Aber was finden die Tiere in diesen unwirtlichen Höhen bloß zum Fressen? Für die Antwort bückt sich der Ranger und zieht ein paar winzige Stängel verblühter weißer Schafgarbe zwischen den Felsen hervor: «Je höher, desto energiereicher sind die Gräser», sagt er, «das ist der Schlüssel des Überlebens, auch für die Murmeltiere.»
Diese pelzigen Alpenbewohner haben sich an die vielen Besucher auf der Kaiser-Franz-Josefs-Höhe im Sommer gewöhnt. «Wer Tiere aus der Nähe fotografieren möchte, geht am besten dorthin, wo viele Leute unterwegs sind», sagt der Ranger.
Auf dem Kopf der Kärnten-Hut, vor der Brust der Feldstecher
Georg Granig hütet nebenbei als Kleinstbergbauer Schafe. Das macht seine Beziehung zu den Bergen besonders intensiv, und ein wenig davon möchte er weitergeben. Sensibilisieren will er für all das, was hier am Ende der Hochalpenstraße jenseits der Parkplätze und des Panoramarestaurants in den Bergen zu entdecken ist.
Im Rucksack hat er stets ein leichtes Stativ, vor den Brust trägt er den Feldstecher, auf dem Kopf den Kärnten-Hut, sein Markenzeichen.
Als Bildungsbeauftragter ist er ganzjährig unterwegs im Nationalpark Hohe Tauern, dem größten Naturschutzgebiet der Alpen, das sich auf die drei österreichischen Bundesländer Salzburg, Tirol und Kärnten erstreckt.
Naturschutz ist in Österreich Ländersache, daher sind es vom Gesetz her eigentlich drei Nationalparks. Aber das ist den Tieren mindestens so egal wie den Touristen. Und wohl auch der Mehrheit der Kinder und Jugendlichen, die der Ranger unterrichtet.
Mal geht‘s auf den Spuren der Erstbesteiger des Großglockners durch das ehemalige Gletscherbett, mal bei der Beobachtung winziger Käfer und Algen in eine wassergefüllte Mulde. «Ich will die Kinder zu mündigen Naturschützern erziehen», sagt der Ranger.
Als der Steinbock zur Apotheke gemacht wurde
Früher gaben die Menschen nichts auf Naturschutz – zumindest, was den Alpensteinbock anging. Er wurde jahrhundertelang gejagt und bis auf einen Restbestand in Italien ausgerottet.
Die Jagd hatte aber weniger mit dem Verlangen nach Wildfleisch zu tun als mit den Mythen, die sich um den Steinbock rankten. Dass das Tier mit einem zehn Kilo schweren Geweih auf dem Kopf so gut klettert und das ganze Jahr im Hochgebirge zurechtkommt, das konnte nicht mit rechten Dingen zugehen, dachte man früher. Also wollte man an die magischen Kräfte kommen.
Vom Horn als Fruchtbarkeitsbringer über unverdauliche Magenreste als Mittel gegen Vergiftungen bis zum Herzmuskel als Anhänger: Von alldem erzählt Georg Granig auf seinen Touren. «Im Herzen des Steinbock gibt es wie beim Reh ein Knochengewebe, das sogenannte Herzkreuz», so der Ranger. Das galt als Zeichen einer göttlichen Verbindung, die dem Tier das irdische Überleben aber fast unmöglich machte.
Es wäre wohl ausgestorben, hätte nicht der italienische König die Zeichen der Zeit erkannt und die Restbestände bewachen lassen, um sie exklusiv für sich zu haben. Und wäre es nicht Schweizern gelungen, einige Exemplare zu entführen, zu züchten und weiterzuverkaufen.
Eine Herde wurde 1960 im Nationalpark freigelassen – beim Jungfernsprung, einem großen Wasserfall unweit von Heiligenblut. «Der Bestand hat sich sehr schnell entwickelt», sagt Granig.
Perspektivwechsel im Haus der Steinböcke
Sollte es während der Beobachtungstour dennoch nicht klappen mit einer echten Begegnung mit dem tierischen Alpen-Monarchen, kann der Ranger immer noch auf das Haus der Steinböcke in Heiligenblut verweisen. «Ein lang gehegtes Projekt», sagt er. Eröffnet 2021, erzählt es die Geschichte des Nationalparks und seiner berühmtesten Bewohner in Film, Foto und plastischen Nachbildungen.
Von der Terrasse aus hat man einen schönen Blick auf die Pfarrkirche Heiligenblut und den schneebedeckten Großglockner, der dahinter aufragt – ein berühmtes Postkartenmotiv.
«Ganz anders sieht es dagegen aus, blickt man vom Gipfelkreuz auf die Kirche», sagt Granig vor einer Aufnahme in der Ausstellung, die genau diesen Gegenblick bietet: Man braucht schon Fantasie, um auf dem vom Gipfel geschossenen Bild die Kirche weit unten im Tal auszumachen.
«Es ist wichtig, die Perspektive zu wechseln», sagt Granig. Die Sicht auf das Hochgebirge sei vor Jahrhunderten eine ganz andere gewesen. «Alles was Wildnis war, ist mit dem Bösen gleichgesetzt worden», so der Ranger.
Abseits der touristischen Ströme gehen
Inzwischen zählen Großglockner und der schmelzende Gletscher Pasterze zu den Höhepunkten einer Alpenreise: Die Sportlichen zieht es auf die Gipfel, die Massen auf die Kaiser-Franz-Josefs-Höhe.
Sie sollten sich aber nicht damit begnügen, sagt Paula Müllmann, regionale Geschäftsführerin im Kärnten Tourismus: «Sobald man abseits der Hauptströme geht, ist es gar nicht mehr touristisch und das ist das Schönste», sagt sie. Wenn die Osttirolerin am Wochenende frei hat, besteigt sie Gipfel, die möglichst keinen Namen haben, und erkundigt sich bei Einheimischen nach den Highlights.
«Wenn man bei uns ist, muss man sich ein wenig Zeit nehmen», sagt die Touristikerin. Wer nur abhake, habe am Ende zwar alles gesehen, aber nichts erlebt. Das gilt auch für eine Steinbockbeobachtung.
Kurzer Blick auf den König der Alpen
Zwischen zwei schützenden Tunneln am Gamsgrubenweg, der an der Kaiser-Franz-Josefs-Höhe startet, bleibt Ranger Granig eine Weile stehen und scannt die Felswelt ab.
Die Tunnel schützen vor der Steinschlaggefahr, sie verhindern aber auch den Blick auf die Gamsgrube selbst, die streng geschützt und den Steinböcken vorbehalten ist.
Aber dann, tatsächlich! Zwischen schroffem Felsgeröll steht er, blickt kurz herüber und trollt sich dann wieder davon, zurück auf seinen unsichtbaren Thron: der König der Alpen.
Info-Kasten: Steinböcke in den Hohen Tauern
Anreise: Mit der Bahn zum Beispiel über den IC-Bahnhof Mallnitz-Obervellach. Von dort kommt man mit dem Postbus über Winklern nach Heiligenblut. Infos zu den Postbus-Linien gibt es unter kaerntner-linien.at.
Vom Bergsteigerdorf Mallnitz aus kann man den Nationalpark Hohe Tauern auch direkt über drei Täler erwandern.
Haus der Steinböcke: Das Museum in Heiligenblut hat in der Hauptsaison (03.07.-08.09.) täglich von 10.00 bis 18.00 Uhr geöffnet, sonst in der Nebensaison (ab 06.05. bis 29.10.) 10.00 bis 17.00 Uhr, mittwochs ist dann Ruhetag. Erwachsene zahlen 10 Euro (ermäßigt: 7,50 Euro), Kinder zwischen 6 und 15 Jahren 5 Euro. Mit der Nationalpark Kärnten Card oder der Kärnten Card ist der Eintritt frei.
Steinbocktouren: Treffpunkt für die Steinbocktour mit einem Nationalpark-Ranger ist das Glocknerhaus auf der mautpflichtigen Großglockner-Hochalpenstraße – immer freitags um 07.00 Uhr (26.05. bis 08.09.) oder 08.00 Uhr (15.09 bis 27.10.). Eine Anmeldung ist bis zum Vortag um 16.00 Uhr erforderlich. Kosten: 20 Euro für Erwachsene, 13 Euro für Kinder. Für Übernachtungsgäste mit einer Nationalpark Kärnten Card ist die Tour kostenlos.
Anmeldung unter nationalpark-hohetauern.at/nationalpark-erlebnisse oder telefonisch unter 0043 4824 2700
Wichtiger Hinweis: Aufgrund des frühen Tourstarts ist laut Nationalparkwebsite eine Anreise mit öffentlichen Verkehrsmitteln bis zum Treffpunkt Glocknerhaus nicht möglich.
Informationen: www.nationalpark-hohetauern.at