Konstanz (dpa/tmn) – Die Tour startet in Radolfzell, der ersten Stadt am See, wenn man von Westen her kommt. Auf Gleis sechs fährt der Zug ein und schon steht man am Seeufer.
Die Altstadt liegt auf der anderen Seite des Bahnhofs, denn die Stadtväter des 19. Jahrhunderts wollten die Eisenbahnen unbedingt direkt am See sehen: Sie ließen dafür einen Weinberg abgraben und das Gelände für den Bahnhof aufschütten.
Was damals der letzte Schrei war, erweist sich heute angesichts des verstellten Seeblicks zwar als Nachteil bei der Vermarktung, aber als Pluspunkt für alle Radreisenden, die mit der Bahn kommen: Sie können die mittelalterlichen Gassen erkunden, das Münster besichtigen und einen Kaffee auf dem Marktplatz trinken – oder eben direkt zur Halbinsel Mettnau radeln, wo gleich zwei Strandbäder warten.
Nachdem alles abgeklappert ist, geht es gen Norden aus der Stadt hinaus. Bei Stahringen öffnet sich ein weiter Blick über sanfte Hügel und Apfelplantagen bis zum Überlinger See, wie der nordwestliche Teil des Bodensees genannt wird.
Böse Skulpturen aus Bodman
An dessen Ende liegt Bodman, das erste Ziel der Tour. Von hier hat der See auch seinen Namen. Ab dem Mittelalter hieß er, zumindest im deutschen Sprachraum, nach der Kaiserpfalz in Bodman – und aus dem Bodman-See wurde der Bodensee.
Der Ort ist nicht nur die Heimat der Grafen von und zu Bodman, sondern auch die Wahlheimat des rebellischen Bildhauers Peter Lenk. Seine Skulpturen sind weit über den See hinaus bekannt: zum Beispiel seine pikante Karikatur des einstigen «Bild»-Chefs Kai Diekmann an der Fassade des früheren «taz»-Gebäudes in Berlin.
Zuletzt machte seine moderne Laokoon-Gruppe Schlagzeilen. Eine Skultpur mit dem baden-württembergischen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann als zentraler Figur, der – nackt bis auf ein Feigenblatt – mit einem schlangenförmigen ICE ringt. Ein Kommentar soll es sein, zum umstrittenen Bau des Tiefbahnhofs Stuttgart 21.
Vor ihrem Stadtpalais wollten die Stuttgarter das provokante Kunstwerk keinesfalls dauerhaft dulden, und so reiste es wieder zurück in Lenks Skulpturengarten in Bodman, wo es beim Blick durch den Zaun gut zu erkennen ist. Führungen gibt es nach Absprache.
Lenks Werk wird auch die nächsten Etappen unserer Reise bereichern: Am Gemeindezentrum Bodmans entstand das «Narrenschiff», am Hafenplatz des Ortsteils Ludwigshafen ein Triptychon – das ist ein dreiteiliges Bild – namens «Ludwigs Erbe». Beides sind flache Reliefs.
«Yolanda» indes ist eine pralle Dame – diese Skulptur am Anleger von Ludwigshafen wurde von Miriam Lenk, seiner Tochter, geschaffen.
In der Vorsaison ist noch Platz auf dem Radweg
Flott läuft das Rad Richtung Überlingen. Sagenhafte Fresken sind zu bestaunen am Eingang zum neuen Überlinger Uferpark. Angelegt für die Landesgartenschau vor zwei Jahren macht er heute kostenlos Freude.
Es ist ein wolkiger Tag noch in der Vorsaison, wo auf dem Radweg Platz für alle ist: Voll wird es vor allem in den Sommerferien, die 2023 in Bayern und Baden-Württemberg Ende Juli starten.
Der letzte Lenk des Tages ragt als Brunnen auf dem Überlinger Landungsplatz in die Höhe. Obenauf thront ein missmutiger Reiter mit Schlittschuhen, der dem Schriftsteller Martin Walser frappierend ähnelt.
Überlingen mit dem gotischen Münster, den liebevoll bepflanzten Gärten und der Promenade ist eine Übernachtung wert. Den Bahnhof ließen die schlauen Überlinger hinter die Altstadt und tiefer legen, so dass – anders als in Radolfzell – ihr Seeblick unverstellt blieb.
Das älteste Freilichtmuseum
Vorbei an stillen Jachthäfen und der Barockkirche Birnau geht es am nächsten Morgen zum Pfahlbaumuseum in Unteruhldingen. Hundert Jahre alt wurde es 2022, das älteste Freilichtmuseum Deutschlands.
Gelangweilte Teenager schlurfen Richtung Museum, gleich drei Schulklassen werden an diesem Morgen zu Gast sein. Dennoch nimmt sich Prof. Gunter Schöbel, Direktor seit 1994, Zeit für ein Gespräch. Er betont die historische Dimension der Funde: Seit 2011 zählen die Pfahlbauten zum Unesco-Welterbe, 111 Fundstätten in sechs Alpenländern bekamen den begehrten Titel.
Im Museum finden sich Original-Fundstücke, im Freien Rekonstruktionen. 23 Bauten zeigen verschiedene Haustypen. Gebaut wurde mit allem, was im Uferbereich des Sees zu finden war: Eichen und Buchen für die Balken, Zweige für Verbindungen, Schilf fürs Dach. In den Hütten wird das Leben in Stein- und Bronzezeit vorgeführt. Die Schüler und Schülerinnen wirken nun durchaus aufmerksamer.
Der Bodensee war schon früh ein begehrter Ort zum Leben, mit seinem milden Klima und dem reichen Fischvorkommen. Der Gütertransport über das Wasser mit segelnden Lädinen war viel bequemer als über Land. So ging Holz aus dem Bregenzerwald zu den Weinbauern in Meersburg, Korn aus dem Schwäbischen ins Appenzell. Stets quer über den See, was bei schnell aufziehenden Gewittern lebensgefährlich werden konnte: Etliche Lastkähne verschwanden mit Mann, Maus und Ladung in den Fluten.
Schwarze Wand und gemalter Sonnenuntergang
Vor den Bregenzer Bergen türmt sich an diesem Tag eine dunkle Wand. Mit dem Kursschiff von Hagnau bis Friedrichshafen sollte man ihr eben noch entgehen, so berechnen wir. Die Strecke entlang der Bundesstraße zählt eh zu den weniger attraktiven Passagen des Radwegs.
Doch dehnte sich der letzte Stopp bei Flammkuchen und einem Gläschen Weißwein am Rebgut Haltnau bei Meersburg wohl zu lange – das Schiff fährt jedenfalls ohne uns.
Und so radeln wir nach Friedrichshafen und ab dort weiter der Wand entgegen, die zunehmend schwärzer wird. Letzte dramatische Fotos am Schloss Montfort in Langenargen. Dann: Dicke Tropfen, böiger Wind, immerhin keine Blitze. Die Jeans klebt an den Beinen und es wird ungemütlich. Entsprechend froh sind wir, am Hotel anzukommen.
Abends entschädigt uns ein wie gemalter Sonnenuntergang am Hafen der Halbinsel Wasserburg – ganz, als sei nie etwas gewesen.
Der schönste Teil des Weges
Am Morgen steht eine zweite Begegnung mit dem Schriftsteller Martin Walser an (wir erinnern uns an den missmutigen Reiter in Überlingen). Im Museum im Malhaus lässt sich sein Werdegang aus einer Wasserburger Gastwirtfamilie studieren.
Wasserburg liegt bereits in Bayern. Ab hier lohnt es sich, neben dem Radfahren reichlich Zeit einzuplanen. Etwa für den Lindenhofpark, wo sich ein exklusives Seebad findet. Oder für Lindau mit seiner Hinteren Insel, ebenfalls Gartenschauland von 2021.
Nun folgt der schönste Teil des Bodenseeradwegs: hinaus aus Lindau, über die Grenze nach Österreich, von Lochau nach Bregenz. Der Weg ist breit und offen zum See, freie Stege und Badetreppen zuhauf. Auf dem Grünstreifen zwischen Radweg und Bundesstraße lagern Badende und Freiluftarbeitende mit ihren Laptops.
Bregenz ist immer wieder eine Freude – welch‘ lässige Stadt! Im großen Strandbad schlagen Jugendliche Rückwärtssalti aus dem Stand oder rennen in Horden hinaus auf den Steg, einen Steinwurf entfernt von der Festspielbühne, die tagsüber frei besucht werden kann.
Am Abend trifft man sich an den Hafentreppen, der See scheint weit und die Sonnenuntergänge sind spektakulär.
Eingezwängt in der Schweiz
An nächsten Tag wähnt man sich in einer venetischen Lagune: Das ausgedehnte Rheindelta, sumpfig und mit etlichen Tümpeln, steht unter Naturschutz. Ein Storch im Landeanflug segelt knapp über den Kopf und Bachstelzen kreuzen den Schotterweg auf dem Damm.
Dem schönsten Wegabschnitt in Vorarlberg folgt der hässlichste, gleich nach der Radbrücke zur Schweiz. Hinter der Schallschutzmauer zur Autobahn führt der Radweg an einem Graben entlang, rechter Hand begrenzt von einem dicken Zaun.
Die Zaunhersteller müssen sich in der Schweiz eine goldene Nase verdienen: Effizient wurde der Radweg eingezäunt, zwischen Gleisen, Feldern oder Privatgärten ist er eingezwängt. Immer wieder quert er die Schienen, vom See lässt sich selten ein Blick erhaschen.
Eine Übernachtung in der ehrwürdigen Gemeinde Arbon muss dennoch sein, bereits die Römer bauten hier ein Kastell. Wunderbar ist es in der «Wunderbar», der früheren Saurer-Werkskantine mit Seeblick.
Mit Lenk schließt sich der Kreis
Am letzten Tag geht es am Schweizer Seeufer bis Konstanz. Am Hafen grüßt die Statue der Imperia. Aus Beton gegossen und tonnenschwer, dreht sie sich seit 30 Jahren ungerührt auf dem Pegelhäuschen.
Es war ein nächtlicher Geniestreich eines alten Bekannten auf dem Bodensee-Radweg: von Peter Lenk. Eines Morgens war sie plötzlich da, inzwischen ist sie ein Wahrzeichen. Mit Künstler Lenk schließt sich auch der Kreis dieser Radtour.
Der Seehas, die regionale S-Bahn, überbrückt die letzten zwanzig Kilometer zurück zum Start nach Radolfzell. So viel Luxus darf man sich am Schluss doch gönnen. Immerhin 177 Kilometer zeigt der Tacho.
Info-Kasten: Radeln rund um den Bodensee
Anreise: Umweltfreundlich mit der Bahn, viele der Orte am See sind ans Schienennetz angebunden.
Tourenplanung: Die Bodensee-Radweg inklusive Untersee ist 264 Kilometer lang, Steigungen sind selten. Wer die gesamte Strecke radeln will, sollte acht Tagesetappen einplanen – es ist aber auch schneller zu schaffen. Empfohlen wird, den Weg im Uhrzeigersinn zu fahren. Für Varianten lohnt ein Radtourenbuch. Alles Infos: www.bodensee-radweg.de
Tipp: Abkürzen lässt sich am gesamten See mit den Kurschiffen. Infos zu Routen und Fahrplänen unter www.bsb.de
Übernachtung: Spontan geht am See fast nichts, schon gar nicht zu Ferienzeiten. Wer nicht im mitgebrachten Zelt schlafen will, sollte Unterkünfte für die Reise rechtzeitig buchen. Oder sich einem der Radreise-Veranstalter anvertrauen, die oft auch Gepäcktransfers anbieten – so radelt man mit weniger Ballast.
Jubiläum: Der Bodenseeradweg wurde 1983 initiiert, fünf Jahre später folgte die Eröffnung des durchgängig befahrbaren Weges. Mehr Infos zur Geschichte und den Veranstaltungen im Jubiläumsjahr unter: www.bodensee-radweg.de/40-jahre