Werdohl (dpa/lnw) – Der Landgasthof liegt irgendwo im Nirgendwo: «Vier Kilometer sind es bis Werdohl, zehn bis Lüdenscheid», sagt Manfred Stell (68). Seit 40 Jahren ist er Gastronom. Mit «Stells Landgasthof» hat er gerade seinen 40. Betrieb eröffnet: das erste alkoholfreie Restaurant der Region – und wahrscheinlich sogar landesweit.
Keiner seiner bisherigen Läden lag so abgelegen. Die allermeisten Gäste kommen mit dem Auto. Das hat den 68-Jährigen bewogen, aus der Not eine Tugend zu machen und eine waghalsig anmutende Geschäftsidee in die Realität umzusetzen.
Ist er damit der Erste in Nordrhein-Westfalen? «Wir erfassen so etwas nicht. Von einem ähnlichen Versuch habe ich aber noch nie gehört», sagt Thorsten Hellwig, Sprecher des Deutschen Hotel- und Gaststättenverbandes NRW. Aus seiner Sicht hat Stells Vorhaben durchaus eine Chance: «In der Gastronomie kann alles funktionieren – wenn es gut gemacht ist.»
Stell sieht sich als Vorreiter eines Trends, «der gerade erst in Deutschland ankommt», wie er sagt. «In den USA ist das völlig normal.» Stell spielt auf die «Sober Bars» an, die ihre Vorläufer in der Abstinenzbewegung des 19. Jahrhunderts haben.
Dabei mutet Stells Getränkekarte auf den ersten Blick ebenfalls völlig normal an: Es gibt verschiedene Biere, Rotweine, Weißweine, einen Rosé, Spirituosen wie Whisky und Gin – aber alles ist alkoholfrei. «Wir kochen noch nicht mal mit Alkohol», sagt Stell. Trotzdem hat er Rotwein-Schalotten auf der Speisekarte – mit alkoholfreiem Rotwein zubereitet, versteht sich.
Beim alkoholfreien Bier sieht er ohnehin kein Problem: «Das schmeckt genauso, alles andere passiert nur im Kopf.» Zwei alkoholfreie Pilssorten und ein Weizen hat er sogar als Fassbiere im Angebot.
Seit einer Woche ist der alkoholfreie Landgasthof geöffnet und der Besuch sei «sehr gut», obwohl er so gut wie keine Werbung geschaltet habe, sagt Stell. «Es hat sich sehr schnell herumgesprochen.»
Auf die Idee habe ihn TV-Koch Frank Rosin gebracht, wenn auch indirekt, verrät der Gastronom. Der habe vor einigen Jahren an Ort und Stelle vergeblich versucht, das Vorgängerlokal zu retten: «Culo del Mondo» habe es geheißen. Zu deutsch: «Am A…. der Welt.»
Mit Alkohol könne man hier sowieso nichts anfangen, habe Rosin gesagt. Da habe es bei ihm Klick gemacht, sagt Stell. Er selbst macht es vor: «Ich trinke seit acht Jahren keinen Alkohol mehr.» Damals habe er vom Alkohol eine Bauchspeicheldrüsenentzündung bekommen und danach beschlossen: nie wieder Alkohol.
«Mir geht es damit super», sagt der 68-Jährige. Bei vielen Gesprächen habe er mitbekommen, dass er nicht alleine ist mit seinem Verzicht, was ihn wiederum ermutigt habe.
Kritikern, die ihm nun vorwerfen, andere mit seinem Angebot zu bevormunden, widerspricht er deutlich. Er habe nichts gegen Kneipen mit Alkoholausschank, wie er sie selbst 40 Jahre lang in Dortmund, Hagen und anderen Städten betrieben habe, aber: «Es muss auch eine Alternative geben.»
Vor zwei Jahren öffnete Deutschlands erste alkoholfreie Bar «Zeroliq» – allerdings mitten in Berlin. Auch dort setzt man auf die Sober-Bewegung aus den USA, die nicht zuletzt vermeiden möchte, dass «trockene» Alkoholiker ständig in Versuchung geraten, rückfällig zu werden, wenn sie ausgehen. Wie «Zeroliq» in Berlin will sich aber auch «Stells Landgasthof» auf keinen Fall als Therapieeinrichtung verstanden wissen.
Die Palette alkoholfreier Getränke ist in den vergangenen Jahren nicht nur deutlich größer geworden, alkoholfreie Alternativen zu Bier, Wein und Spirituosen sind im Aufwind. Der australische Getränkehersteller Lyre‘s, Weltmarktführer für alkoholfreie Spirituosen, wurde unlängst mit über 115 Millionen Euro bewertet.
Das Gesundheitsbewusstsein sei gewachsen und die Angst vor den negativen Folgen des Alkoholkonsums gestiegen, sagen Experten wie Daniel Kofahl.
Während der Bierkonsum in Deutschland in den letzten Jahren kontinuierlich zurückging, hat sich der Gesamtausstoß alkoholfreier Biere nach Angaben des Deutschen Brauer-Bundes seit 2007 fast verdreifacht. Die Wahrheit ist aber auch: Alkoholfreies Bier hat trotz seiner Zuwachsraten erst einen Marktanteil von rund sieben Prozent.
Stell ficht das nicht an: Er hat nach einer Woche sogar schon erste Buchungen für Familien- und Weihnachtsfeiern im Kalender.