Paris (dpa) – «Wenn die K.o.-Spiele kommen, muss man die wenigen Chance eiskalt verwerten und nicht damit spaßen», mahnt Bundestrainer Joachim Löw. «Wir haben zu viele Chancen vergeben. Wir hätten schon zur Halbzeit 3:0 oder 4:0 führen müssen.»
Mario Gomez, Schütze des goldenen Tores, rechtfertigt das Schützenfest vergebener “Schlanzen, wie ein tonangebende Fußballmagazin die zwei Begriffe Chance und “Schlance treffen zusammenführt: «Das war nicht einfach da vorne. Da standen zwei Ochsen. Alles in allem können wir zufrieden sein. Wir sind Gruppenerster, das ist, was zählt bei einer EM. Jetzt hoffen wir, dass wir auch noch die Tore schießen. Vielleicht haben wir uns die Tore für die K.o.-Phase aufgehoben.» Irgendwo dazwischen argumentiert Thomas Müller: «Wir haben das umgesetzt, was wir trainiert haben. Nur die Tore haben gefehlt. Allein ich hätte in der ersten Halbzeit mit Gareth Bale gleichziehen können. Wir waren aber gierig und haben uns reingebissen. Das war eine deutliche Steigerung. Wenn wir den Hunger behalten, geht der Ball auch wieder rein.»
Kimmich gibt den Lahm
Sehr gut hat seinen Part als rechter Offensivverteidiger Joshua Kimmich angenommen und schon kontert er auch rhetorisch: «Wir haben es in der ersten Halbzeit vorn extrem gut gemacht, haben viele Chancen herausgespielt. Auch in der zweite Hälfte haben wir es gut gemacht, hätten viel mehr Tore schießen müssen. Der Trainer kam vor zwei Tagen zu mir und hat gesagt, dass er überlegt, mich rechts hinten zu bringen. Gestern hat er es mir dann gesagt. Im Team hat es vom ersten Tag an gestimmt. Auch heute hat es gepasst.» Und dem schließt sich der souveräne Abwehrturm Mats Hummels an: «Wir haben gut gespielt, nur haben wir viel zu wenig Tore geschossen. Das war das Manko. Aber wir haben uns Chancen herausgearbeitet, das war sehr gut. Wir können zufrieden sein, aber nicht endgültig. Es gibt Mannschaften, die weltklasse kombinieren können. Das müssen wir noch einen Tick besser machen.»
Trotz Ladehemmung zieht Deutschland als Gruppensieger ins Achtelfinale ein und trifft nun am Sonntag (18.00 Uhr) in Lille auf die Slowakei oder Albanien. Immerhin zeigte die DFB-Auswahl eine deutlich spielerische Leistungssteigerung im Vergleich zu den holprigen Auftritten gegen die Ukraine (2:0) und Polen (0:0).
Acht Hochkaräter plus Tor
Gomez schoss bereits in der 29. Minute vor 44 125 Zuschauern im Prinzenpark den 25. Sieg einer deutschen Mannschaft in der EM-Geschichte heraus. Doch weniger das Ergebnis als vielmehr die Spielweise dürften Löw zufrieden stimmen. Mehr Bewegung, mehr Durchschlagskraft und deutlich mehr Abschlüsse brachte die zuletzt kritisierte deutsche Mannschaft zustande. Einzig die Chancenverwertung blieb das große Manko, allein im ersten Durchgang vergaben Thomas Müller und Co. noch acht weitere hochkarätige Torchancen und hätten das Fernduell mit Polen schon nach 45 Minuten für sich entscheiden können.
Torschütze Gomez und EM-Debütant Joshua Kimmich, die Löw neu ins Team gebracht hatte, gehörten zu den großen Gewinnern. Mit Gomez erhielt das deutsche Angriffsspiel deutlich mehr Torgefahr, verdienter Lohn war sein Tor. Letztmals hatte Gomez beim 2:1 gegen die Niederlande während der EM 2012 in einem Pflichtspiel getroffen. Und Kimmich, der den defensiveren Benedikt Höwedes als rechten Außenverteidiger ersetzte, leitete einige Angriffe ein und hinterließ einen starken Eindruck.
Özil mit großem Radius
Deutlich formverbessert präsentierte sich auch Mesut Özil, der im dritten Spiel endlich in die Rolle des Spielmachers rückte und gegen die «ultra-defensiven» und total überforderten Nordiren einen großen Aktionsradius besaß. Pechvogel im deutschen Team war dagegen Müller, der in der ersten Halbzeit Pfosten (27.) und Latte (34.) traf und zudem zwei weitere hochkarätige Chancen ungenutzt ließ (8. und 23.). Damit wartet Müller, der bei zwei Weltmeisterschaften zehn Treffer erzielte, weiterhin auf sein erstes Tor bei einer EM-Endrunde.
Löw war auf der Bank sichtlich zufrieden mit dem Spiel seiner Mannschaft. Extrem offensiv war das DFB-Team ausgerichtet. Die Außenverteidiger Kimmich und Jonas Hector agierten fast schon als Flügelspieler. Einzig Mario Götze fiel in einer starken deutschen Mannschaft ab. Das Sorgenkind vom FC Bayern wirkte pomadig, leistete sich viele Ballverluste und vergab auch drei gute Torchancen (12., 52. und 53.).
WM-Held Götze muss Schürrle weichen
Der WM-Held von Rio hatte schon in den ersten beiden Spielen als sogenannte falsche Neun nicht überzeugt, diesmal kam er auf dem linken Flügel zum Einsatz. Folgerichtig musste der Ausnahmetechniker nach 55 Minuten vom Platz, dafür kam der Wolfsburger André Schürrle ins Spiel.
Die deutsche Abwehr war indes kaum gefordert. Ein harmloser Torschuss von Jamie Ward (26.), mehr hatte der EM-Neuling nicht zu bieten. An der Unterstützung des eigenen Anhangs lag es jedenfalls nicht. Lautstark feuerten die Fans die Green & White Army an, auch Edelfan und Golfstar Rory McIlroy war eingeflogen. Mit drei Punkten müssen die Nordiren als Gruppendritter noch um das Weiterkommen zittern.
Schweini neuer EM-Rekordhalter
Die verschwenderische Chancenverwertung setzte die DFB-Auswahl auch im zweiten Durchgang fort. Nach den beiden Götze-Möglichkeiten kurz nach dem Seitenwechsel war es Sami Khedira, der den nordirischen Schlussmann Michael McGovern prüfte, den Abpraller vergab Gomez per Kopf.
Spielpraxis sammeln durfte auch Kapitän Bastian Schweinsteiger, der in der 67. Minute ins Spiel kam und damit weiter von Löw an die EM herangeführt wird. Mit seinem 15. EM-Einsatz stieg der Mittelfeldmann von Manchester United zudem zum alleinigen deutschen Rekordspieler auf. Phillip Lahm hatte 14 EM-Begegnungen absolviert.
Die deutsche Fußball-Nationalmannschaft in der Einzelkritik
Neuer: Einen Schuss von Ward parierte er sicher (26.). Ansonsten fast nur Zuschauer des deutschen Angriffsspiels. Seine Null steht weiter.
Kimmich: Fast nur als Rechtsaußen unterwegs. Die von Löw erhofften Offensivimpulse kamen vom Turnierneuling. Präzise Flanken – klasse.
Boateng: Leitete aus der Abwehr Großchancen von Müller (7.) und Özil (11.) ein. Ließ aber Davis einmal unkonzentriert passieren (57.).
Hummels: Klärte gut gegen Washington (8.). Sehr gutes Stellungsspiel, sicher in der Spieleröffnung. Ein Ruhepol im deutschen Abwehrzentrum.
Hector: Seine Defensivaufgabe löste der Kölner. Offensiv fiel seine Flankenschwäche negativ auf. Fiel im Vergleich zu Kimmich klar ab.
Khedira: Die Fehlerquote war zu hoch. Leistete sich Ballverluste in der eigenen Hälfte. Einige gute öffnende Pässe nach vorne.
Kroos: Spielmacher aus der Tiefe. Gewohnt ballsicher. Musste defensiv wenig erledigen. Ein unspektakulärer Auftritt des Verbindungsmannes.
Müller: Arbeitete sich ins Turnier. An vielen gefährlichen Aktionen beteiligt. Legte Gomez das 1:0 auf. Vier Großchancen, zweimal im Pech mit Pfosten-Kopfball (27.) und Lattenschuss (34.). Ein Aktivposten.
Özil: Der Spielmacher drehte erstmals auf. Legte Müller top auf (7.), leitete das Gomez-Tor ein. Großer Aktionsradius. Überall unterwegs.
Götze: Agierte diesmal links. Einige schlampige Ballverluste – und nicht effektiv: Scheiterte zweimal am Torwart, zielte einmal vorbei.
Gomez: Erstmals Startelf – und gleich ein Tor im Zusammenspiel mit Müller. Brachte Wucht in den Strafraum, legte Müller mit der Brust auf (23.), köpfte gefährlich (82.). Zeigte seine Qualitäten.
Schürrle: Kam für Götze (55.). Auch im dritten Turnierspiel noch nicht mit der großen Joker-Aktion. So drängt er sich nicht auf.
Schweinsteiger: Wertvolle 23 Turnierminuten für den Kapitän. Warf sich in die Zweikämpfe, dirigierte, brachte seine Ballsicherheit ein.
Höwedes: Der Schalker kam für den in der Endphase geschonten Boateng ins Abwehrzentrum. Bleibt eine wichtige Defensivkraft fürs Turnier.