Rückblende. Breslau im eiskalten Winter 1945, kurz bevor die Stadt zur Festung erklärt wird. Ein Hitlerjunge beobachtet einen Mord, begangen von einem hohen Parteifunktionär. Er wagt es nicht, seine Beobachtung zu melden. In der von Gauleiter Karl Hanke zur Festung erklärten Stadt ist ein Menschenleben nicht mehr viel wert. Doch wer ist der Autor des Tagebuchs, in dem dieses Verbrechen dokumentiert ist?
Dieses Einzelschicksal in den Wirren der alliierten Schlussoffensive ist zeitgeschichtlicher Hintergrund für den dritten Schöngeist-Thriller des Amberger Autors Siegfried Schröpf. „Das Thema hat mich schon lange gereizt“, sagt der Geschäftsführer eines renommierten Solarunternehmens. „Zum einen trieb mich das Flüchtlingsschicksal zu dem es auch familiäre Bezüge gibt, zum anderen beschäftigt mich das Motiv, dass ein auf Lügen aufgebautes Leben noch Jahrzehnte später im Desaster für alle Beteiligten enden kann.“ Schröpf verwebt die Handlungsebenen aus der Weltkriegsfestung – Mord, Flucht und Identitätsraub – und den tragischen Freitod einer in den Westen geflohenen Unternehmerpersönlichkeit aus der schlesischen Metropole zu einem spannenden Wirtschaftsthriller mit gesellschaftskritischem Tiefgang.
Verrat am Firmengründer
Gut 600 Kilometer weiter westlich, im winterlichen Würzburg von heute, gerät Anwalt Thomas Schöngeist in den Strudel der braunen Vergangenheit. Sein Jugendfreund Peter Schneider ist verschwunden. Im Auftrag von Helma, dessen Frau, nimmt der Würzburger Wirtschaftsanwalt die Spur im gemeinsamen Geburtsort Blaukirchen auf, wo er schnell auf Ungereimtheiten stößt. Peter hat in die Unternehmerfamilie Brosinski eingeheiratet, wo er trotz seiner herausgehobenen Position als Geschäftsführer eines Tochterunternehmens des Elektro-Mittelständlers auf vehemente Ablehnung stößt.
Um eine Insolvenz zu verhindern, plädierte Schneider vor Jahren für den unvermeidlichen Verkauf des Betriebs, was ihn für Seniorchef Klaus und dessen Sohn Michael zum Verräter stempelte. Als sich – Jahre nach der vermeintlich feindlichen Übernahme – Klaus Brosinski das Leben nimmt, eskalieren die Angriffe auf Schneider. Durch gezielt lancierte Pressemeldungen wird er als Profiteur und Betrüger diffamiert, dann sogar von einer osteuropäischen Schlägertruppe verprügelt. Und plötzlich ist Peter Schneider spurlos verschwunden …
Aus ist deine Zeit und die Laut zerschlagen,
Nachts aus der stillen Stadt nun mußt du gehn,
Die Wetterfahnen nur im Wind sich drehn,
Dein Tritt verhallt, mag niemand nach dir fragen.
Diese mysteriösen Zeilen aus einem Eichendorff-Gedicht findet Helma nebst erotischem Liebesbrief. Sollte Peter tatsächlich wegen einer Affäre auf und davon sein? Schöngeist kann sich das nicht vorstellen. Der Anwalt beauftragt eine Detektei, mit der er bereits in früheren Fällen zusammengearbeitet hatte. Neue Indizien tauchen auf, die nach Breslau weisen – Michael Brosinski versucht dort mit dubioser Unterstützung der Preußischen Treuhand, das Eigentum der Familie zurückzufordern. Da trifft es sich gut, dass Olga, mit der Schöngeist vor Jahren eine heiße Liebesnacht erlebte, von der er heute noch träumt, inzwischen in Breslau lebt. Ein Grund mehr, der schlesischen Metropole einen Besuch abzustatten, auch wenn Thomas‘ Gewissen beim Gedanken an Freundin Karin etwas hyperventilliert.
Der Frühling bricht das Eis der Odra
Auch als Schneider – ebenso überraschend wie er verschollen war – in Berlin wieder auftaucht, ändert das nichts an Schöngeists Reiseplänen: Erstens zeigt sich der Jugendfreund seltsam verschlossen, und zweitens sitzt diesem jetzt die Staatsanwaltschaft im Nacken: Man wirft seiner neuen Berliner Solarfirma, mit der er weit weg von den Brosinskis eine neue Existenz aufbauen wollte, Millionenbetrug durch ein Umsatzsteuerkarussell vor. Das Unternehmen, von dem Peter die Module bezog, hat seinen Sitz ausgerechnet in Breslau.
„Der Frühling bricht das Eis der Odra, wann traust du dich?“ lockt zudem Olga und als Peter ein Treffen in Breslau vorschlägt, wo er seinen verschollenen, nach Ecuador ausgewanderten Onkel Helmut wiedertreffen möchte, muss Schöngeist nicht mehr lange überredet werden. Schließlich laufen in der schlesischen Metropole alle Fäden zusammen, mehr als ein Rätsel könnte dort gelöst und ein süßes Geheimnis gelüftet werden.
Ebenfalls in Wroc?aw/Breslau fand nach dem Krieg Tadeusz Mostowski eine neue Heimat. Als kleiner Junge flüchtete er mit seiner Familie aus Lemberg. Als plötzlich Brosinski jr. mit Eigentumsansprüchen und einem Anwalt vor seinem Haus auftaucht, gerät seine Welt erneut aus den Fugen. Zusammen mit einem Freund versucht er, sich gegen die Deutschen zur Wehr zu setzen.
Schöngeist ist verschwunden
Am Abend, als Onkel Helmut, der Autor des Kriegstagebuchs, das Geheimnis um das Geschehen in jener grausigen Nacht lüften will, wartet jener vergeblich auf Peter Schneider und Thomas Schöngeist. Weil sich auch bei Olgas besorgten Anrufen immer nur die Mailbox meldet, macht sie sich auf die Suche und trifft im Hotel den alten Mann, dessen Breslauer Vergangenheit womöglich Schatten bis in die Gegenwart wirft. Mit Hilfe des Detektivs Bendlin und dessen Hacker-Genie vom Chaos Computer Club lässt sich Schöngeists Mobiltelefon orten – es funkt von einem verlassenen Anwesen am Stadtrand Breslaus …
In einer konzertierten Aktion gelingt es Olga zusammen mit einem polnischen Bekannten und unterstützt von Detektiv Bendlins Mobilfunkexperten die beiden Männer zu befreien. Zusammen fährt das Quartett zurück zum Hotel, wo Onkel Helmut den letzten Mosaikstein – sein Tagebuch – bereithält:
„Zwei Männer standen neben dem Jungen und stritten. Einer war Brosinski, dessen Gesicht ich nie vergessen werde. Der andere sah in dem dämmrigen Licht recht ähnlich aus, vielleicht etwas größer, vielleicht weniger dick. Eine Uniformmütze wies ihn gleich auf den ersten Blick als SS-Angehörigen aus. Erst als er sich ein wenig zu mir herdrehte, ich erschrak fürchterlich, und ich auf seinem Uniformkragen die vier Quadrate sehen konnte, die ihn als Sturmbannführer auswiesen, erkannte ich Emil Exner, der häufig in der Schlesischen Zeitung zusammen mit Gauleiter Hanke abgebildet ist und auf einigen HJ- Veranstaltungen gesprochen hat.“
Sprengkraft eines alten Tagebuchs
Ein Tagebucheintrag entwickelt seine ganze Sprengkraft erst Jahrzehnte später, weil sich die Lebenswege zweier Familien kreuzen, die zu viel voneinander wissen. Der SS-Mann hatte Brosinski beseitigt und mit dessen identität und gestohlenen Patenten ein Unternehmen in der beschaulichen süddeutschen Nachkriegsrepublik aufgebaut.
Siegfried Schröpf versteht es blendend, in der lakonischen Sprache eines Gegenwartsthrillers menschliches Schicksal zu verkleiden, das die handelnden Personen mit der Zwangsläufigkeit einer griechischen Tragödie in seinen Strudel zieht. Dabei reflektiert – nomen est omen – Anwalt Schöngeist mal als Bon Vivant in den Betten schöner Frauen, mal als grübelnder Langstreckenläufer die Grenzen persönlicher und kollektiver Schuld, die Fallstricke historischer Komplexität der deutsch-polnischen Stadt Wroc?aw/Breslau.
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