Belo Horizonte – Zwei Seelen wohnen in unserer Brust: Über ein sauberes 3:0 hätten wir uns tierisch freuen können. Eine coole Revanche gegen das Land, das 2002 mit dem 2:0 im Endspiel Oli Kahn zur Verzweiflung gebracht hatte. Aber spätestens ab dem 4:0 stellte sich fast unwillkürlich eine Beißhemmung ein. Weinende Kinder, hemmungslos heulende Frauen, fassungslose brasilianische Spieler. Bei aller Freude wohnte dem Geschehen ein kleiner Teufel inne, der flüsterte: Was kann hier noch geschehen? Bricht hier mehr als eine Fußballmannschaft auseinander?
Nie war David Luiz sympathischer
Es lasteten Tonnen auf den Schultern des chancenlosen Julio Cesar, des aufgelösten David Luiz: “Wir wollten einfach nur den Menschen eine Freude machen, denen es so schlecht geht in unserem Land”, schluchzte Luiz, der nie sympathischer wirkte in diesem Turnier als in diesem verzweifelten Moment. Und Cesar hatte die Größe der deutschen Mannschaft zu gratulieren: “Deutschland hat sehr stark gespielt.”
Das stimmt, aber das erklärt das Debakel nicht. Es erinnert an die bittere, unverdiente Halbfinal-Niederlage Deutschlands gegen Italien im eigenen Land – in der Verlängerung. Oder das Scheitern im Halbfinale gegen Spanien 2010, indem die Deutschen nach mitreißenden Siegen gegen England und Argentinien seltsam mutlos wirkten.
Kopf hoch, Jungs!
Aber was Brasilien hier erleidet ist einfach noch drei Stufen härter: Die Gelben verfielen nach dem 0:3 in eine Schockstarre, Panikattacken bei jeder Ballberührung – eine Wechselwirkung mit den tief enttäuschten Fans, die erst verstummten, dann den armen Fred zum Sündenbock deklarierten und schließlich auch noch die deutschen Ballstaffetten feierten. Jungs, kopf hoch, es ist trotz allem, trotz der Leidenschaft für diesen Sport, es ist Fußball, nicht Krieg.
Und weil es Fußball ist, und nicht Krieg wie anderswo zeitgleich, dürfen sich die Deutschen auch von Herzen freuen über diese sieben Streiche auf einmal – und sich dann besinnen: Es ist ein Spiel, das viel mit Glück zu tun hat. Die gleiche Mannschaft stand gegen Algerien vor dem Aus. Der Ball ist rund und kann von der Latte ins Tor oder wieder raus springen. Am Sonntag geht es wieder bei 0:0 los – gegen Argentinien oder Holland. Und das Fiebern geht weiter.
Außerirdische Manipulation
Die deutliche 5:0-Führung Deutschlands gegen WM-Gastgeber Brasilien zur Halbzeit hat im Internet Unglauben und viele Witze ausgelöst. «Außerirdische Mächte manipulieren meinen Empfänger», schrieb Schauspieler Armin Rohde bei Twitter und zeigte ein Foto seines Fernsehers mit dem Zwischenergebnis. Der englische Sänger Russell Brand twitterte ein ungläubiges «Holy Fuck» und Musikerkollege Wyclef Jean «Stunned» (fassungslos). Das ZDF, das das Spiel live aus Belo Horizonte zeigte, gab den Twitternutzern Verständnishilfe: «Später eingeschaltet? Pech gehabt! Zahl oben in ihrem TV-Gerät eingeblendet stimmt wirklich!»
Mit seinem Treffer im WM-Halbfinale zum 1:0 gegen Brasilien hat Thomas Müller in der Torschützen-Bestenliste des DFB mit Helmut Rahn gleichgezogen. Der Profi von Bayern München hat nun ebenfalls zehn WM-Endrundentore auf dem Konto. Miroslav Klose ist mit seinem 16. WM-Tor zum alleinigen Rekordtorschützen bei Fußball-Weltmeisterschaften aufgestiegen. Der 36-Jährige ließ am Dienstag durch sein Tor zum zwischenzeitlichen 2:0 im Halbfinale gegen Brasilien in Belo Horizonte den Brasilianer Ronaldo mit dessen 15 WM-Treffern hinter sich und erzielte im 136. Länderspiel sein insgesamt 71. Länderspieltor für Deutschland.
Unfassbar! Phänomenal! Weltmeisterlich!
Nach der spektakulärsten Fußball-Darbietung in der deutschen WM-Geschichte trennt Joachim Löw und seine noch ungekrönten Helden nur noch ein Schritt vom vierten Titelgewinn. Auf den Tag genau 24 Jahre nach dem letzten WM-Triumph in Italien versetzte die gereifte Generation um den nun alleinigen WM-Rekordschützen Miroslav Klose (16 Tore) mit einem sensationellen 7:1 (5:0) im Halbfinale ganz Brasilien in einen Schockzustand. Im Endspiel am Sonntag im mystischen Maracanã in Rio gegen den Erzrivalen Holland oder Argentinien, das Deutschland 1990 in Rom mit 1:0 besiegen konnte, geht es aber wieder bei Null los.
Beim zweithöchsten deutschen WM-Sieg und dem bisher klarsten Erfolg in einem WM-Halbfinale überhaupt trafen für die in der ersten Hälfte entfesselten schwarz-rot-goldenen Kicker Thomas Müller (11.), Klose (23.), Toni Kroos per Doppelpack (24./26.), Antreiber Sami Khedira (29.) und der eingewechselte André Schürrle (69./79.). Oscar verkürzte erst in der 90. Minute. Der 36 Jahre alte Klose überflügelte mit seinem Rekordtor vor 58 141 Zuschauern den Brasilianer Ronaldo (15) als besten WM-Schützen. Und Müller hat nach seinem fünften Turniertor die Chance, wie 2010 WM-Torschützenkönig zu werden – es wäre eine historische Leistung.
Höchste Niederlage der Länderspiel-Geschichte
Gegen kollektiv versagende Brasilianer, die die Ausfälle von Superstar Neymar und Kapitän Thiago Silva nicht verkraften konnten und die höchste Niederlage ihrer Länderspiel-Geschichte kassierten, spielte die deutsche Startelf ihre Erfahrung von 681 Länderspielen gnadenlos aus. «Finale, oho», skandierten die deutschen Fans, die brasilianischen Spieler wurde für ihre höchste WM-Niederlage von ihren Landsleuten gnadenlos ausgepfiffen.
Kroos erwies sich in seinem 50. Länderspiel nicht nur erneut als Meister des ruhenden Balls, sondern auch als eiskalter Vollstrecker. Der Eckball des vor dem Absprung zu Real Madrid stehenden Münchners leitete das sechste deutsche WM-Tor nach einer Standardsituation ein. Der 24-Jährige kurbelte gemeinsam mit Khedira im Mittelfeld unermüdlich an und sorgte mit dem zweiten Tor-Doppelpack im DFB-Trikot früh für klare Verhältnisse.
Bernard kann Neymar nicht ersetzen
Bei den Hausherren kam der in Belo Horizonte geborene Bernard für den verletzten Neymar zum Zuge, der trotz seines Fehlens in aller Munde war. Alle Spieler und auch Trainer Luiz Felipe Scolari betraten die Arena mit weißen Schirmmützen mit der Aufschrift «Força Neymar» («Vorwärts Neymar»). Ersatz-Kapitän David Luiz hatte extra das Trikot mit der Nummer 10 mitgebracht. Schon lange vor dem Anpfiff hallten immer wieder Neymar-Gesänge durchs Stadion, dagegen wurde Joachim Löws Team schon beim Verlesen der Aufstellung ausgepfiffen.
Bei angenehmen Temperaturen knapp über 20 Grad ließ sich die deutsche Mannschaft aber von dieser Atmosphäre und der fast komplett in Gelb getauchten Kulisse nicht einschüchtern. Die erste erfolgversprechende Kombination über Müller und Özil brachte in der 8. Minute Khedira im Strafraum in Schussposition, Kroos blockte den Versuch des Wahl-Spaniers unglücklich mit dem Rücken ab. Drei Minuten später führte wie schon im Viertelfinale gegen Frankreich eine Standardsituation zur Führung. Beim ersten deutschen Eckball durch Kroos stand Müller völlig frei und konnte sich bei seinem insgesamt zehnten Tor bei einer WM-Endrunde die Ecke aussuchen.
Klinsi: “What a Game!”
In der Folgezeit wurden den Brasilianern vom DFB-Team immer häufiger ihre spielerischen Grenzen aufgezeigt – auch der für den gesperrten Thiago Silva ins Team gerückte Bayern-Profi Dante konnte das sich nun abzeichnende Debakel nicht verhindern. Eine traumhafte Ballstafette über Kroos und Müller leitete das 2:0 durch Klose ein, der im ersten Versuch noch an Julio Cesar scheiterte, ehe er im Nachsetzen flach in die Ecke traf. Das 16. Endrunden-Tor des Team-Seniors, mit dem er ausgerechnet in Brasilien Ronaldo als WM-Torschützenkönig überflügelte, leitete eine Gala der deutschen Mannschaft ein, in der den Brasilianern binnen weniger Minuten Hören und Sehen verging.
Kroos mit einem Doppelschlag binnen kaum mehr als 60 Sekunden und Khedira jeweils nach traumhaften Kombinationen schossen mit ihren Treffern fast im Minutentakt gegen völlig demoralisierte Gastgeber ein rekordverdächtiges 5:0 heraus. Fünf Tore in den ersten 29 Minuten waren der DFB-Auswahl nicht einmal gegen San Marino gelungen, wo es am 6. September 2006 im dritten Länderspiel der Ära Löw am Ende 13:0 hieß. Während bei vielen in Gelb gekleideten Fans bittere Tränen der Enttäuschung flossen, waren die deutschen Anhänger schier aus dem Häuschen und sangen: «Einer geht noch, einer geht noch rein». Auch Ex-Bundestrainer Jürgen Klinsmann war hingerissen und twitterte schon zur Pause begeistert: «GO GERMANY GO !!! WHAT A GAME !!»
Die Deutschen in der Einzelkritik
Für den an einer Sehnenreizung in der Kniekehle laborierenden Mats Hummels rückte nach der Pause Per Mertesacker in die Abwehrkette, die gegen Brasiliens bis dahin harmlose Offensive auf einmal Chancen zuließ. Doch Manuel Neuer hielt mit Glanztaten gegen Ramires (51.), Oscar (52.) und zweimal Paulinho (53.) seinen Kasten sauber. Löw reagierte an der Seitenlinie ungehalten auf die Nachlässigkeiten. Erst danach besann sich das Team wieder aufs Fußballspielen und machte schließlich durch Schürrle, der einen Pass von Kapitän Philipp Lahm über die Linie drückte, das halbe Dutzend voll. Zehn Minuten später stand Schürrle erneut frei und machte die historische Pleite der Seleção perfekt.
Neuer: Seine überragende Form zeigte er kurz nach der Pause:
Rettete gleich viermal in zwei Minuten sensationell. Ein Torwart-Gigant.
Lahm: Auf seiner Position rechts bärenstark. Nach hinten souverän,
nach vorn immer dabei. Gleich zwei Tore bereitete er super vor.
Boateng: Selbstbewusst demonstrierte er sofort Stärke. Das ist immer
mehr auch seine WM. Als Innenverteidiger noch stärker als außen.
Hummels: Eine Bank, diesmal defensiv imponierend. Stellte die Räume zu,
harmoniert mit Boateng super. Mit Knieproblemen zur Pause raus.
Höwedes: Die positive Überraschung im deutschen WM-Team.
Die ungewohnter Rolle links spielte er knallhart und makellos.
Khedira: Das war wieder der alte Khedira: Präsent, zweikampfstark!
Torvorbereiter und Torschütze. Löws langes Warten hat sich gelohnt.
Schweinsteiger: Als Libero im Mittelfeld überragend. Rechtzeitig auch
körperlich voll da. Die Erfahrung von 107. Länderspielen stach.
Kroos: Der designierte Real-Madrid-Profi wird immer mehr zum Mittelfeld-Juwel.
Zweiter Tore-Doppelpack, eine Tor-Vorlage. Respekt.
Müller: Der neue «Bomber»: Fünftes Turniertor, zehnter WM-Treffer!
Der Münchner kann wie 2010 wieder Top-Torjäger werden.
Klose: Jetzt hat er seinen alleinigen Torrekord! Mit 16 WM-Treffern überflügelte
er Ronaldo. Zur Krönung fehlt jetzt noch ein Sieg.
Özil: Kam zunächst wieder nicht ins Spiel, zu zögerlich im Zweikampf.
Dann ließ er sich von den Kollegen mitreißen, legte zum 5:0 auf.
Mertesacker: Ersetzte Hummels in der zweiten Hälfte. Brauchte nach seiner
Bankpause etwas Eingewöhnung. Dann stark in der Luft.
Schürrle: Der Joker stach wieder. Als Löw nach der Pause schon unzufrieden
wurde, schlug er mit Turniertor zwei und drei zu.
Draxler: Der WM-Debütant durfte die letzten 13 Minuten mit genießen.
Löste Khedira ab – erster Turniereinsatz.
«Lance!»: «Brasilien wird gedemütigt. Die Seleção erleidet eine historische Niederlage gegen Deutschland und Ronaldo hat seinen Rekord verloren.»
«Estado de São Paulo»: «Debakel im Mineirão»
«Folha de São Paulo»: «Deutschland massakriert Brasilien»
«O Dia»: «Deutsches Massaker»
GROSSBRITANNIEN
«Daily Telegraph»: «Auf die Knie gezwungen»
«Daily Star»: «Sambaaargh»
«Daily Mail»: «Genau wie Brasilien zuzusehen. Die brillanten Deutschen verprügeln die Gastgeber»
USA
CNN: «Erst war da Unglauben, dann Tränen. Brasiliens Traum von der Weltmeisterschaft ist vorbei. Der Gastgeber wurde von Deutschland mit 7:1 gedemütigt.
«NPR»: «Deutschland walzt Brasilien mit 7:1 nieder»
«USA Today»: «Oh! Mein! Gott!» (auf Deutsch) «Deutschland schlägt Brasilien 7:1 in einem Fußball-Blitzkrieg»
MEXIKO
«Reforma»: «Deutschland massakriert den Gastgeber.»
«Universal»: «Deutschland demütigt Brasilien und steht im Finale.»
«Milenio»: «Brasilianische Tragödie.»
«La Jornada»: «Die deutsche Maschine zerstört den Weltmeistertraum Brasiliens.»