Lübeck/Oldenburg (dpa/tmn) – Wer studiert, lernt Neues, schreibt Klausuren, meistert Prüfungen. Aber nicht nur. Oft ist das Studium auch die Zeit der ersten großen Freiheit, des Auszugs aus dem Elternhaus, des Ausprobierens, der Neugier und Unbeschwertheit. Doch es kann auch anders aussehen.
«Ich habe das nie so empfunden», erzählt etwa Julika Stich. «Ich fühlte mich immer in Verantwortung für meine Mutter.» Stichs Mutter erkrankte an Multipler Sklerose, da war die Tochter noch ein Kind. Schon mit sieben Jahren half sie bei der Pflege. Je weniger sich die Mutter bewegen konnte, umso mehr, während der Schulzeit, während der Ausbildung, während des Studiums. «Erst im Rückblick ist mir klar geworden, wie groß diese Belastung war», sagt die Lübeckerin.
Herausforderungen, die Studierende mit kleinen Kindern bewältigen müssen, sind in der Öffentlichkeit durchaus präsent. Von jungen Frauen und Männern, die während ihres Studiums Pflegeaufgaben übernehmen, liest und hört man selten. Dabei ist ihre Zahl nicht niedriger: Laut der Studierendenbefragung in Deutschland, einer wissenschaftlichen Studie zur Lebens- und Studiensituation von Studierenden, waren im Jahr 2021 rund acht Prozent von ihnen Eltern. Knapp zwölf Prozent gaben an, Pflegeaufgaben zu übernehmen.
Der Begriff ist weit gefasst: Das können gelegentliche Einkäufe für die Nachbarin sein, ab und zu Hilfe für den Opa bei einem Behördenbrief – aber auch die Rund-um-die-Uhr-Pflege eines chronisch kranken Elternteils. Dann bleibt wenig Zeit zum Studieren, zum Jobben, für Freizeit. Und die Aufgabe ist nicht nur zeitlich belastend, sondern auch emotional.
Unis bieten Beratungsstellen
«Wir wissen nur wenig über pflegende Studierende, weil sie kaum sichtbar sind und nur selten um Unterstützung bitten», sagt Claudia Batisweiler. Sie hat einen Ratgeber für pflegende Studierende mitverfasst, der vom Centrum für Hochschulentwicklung (CHE) herausgegeben wurde, und ist beim Familienservice der Universität Oldenburg unter anderem für das Thema Pflege zuständig.
Solche Beratungsstellen gibt es an den meisten Universitäten. An sie kann man sich mit Fragen zu familiengerechten Arbeits- und Studienbedingungen wenden. «Aber pflegende Studierende kommen nur sehr selten zu uns», sagt Batisweiler: «Sie machen das nicht öffentlich, wenn sie keinen Grund dazu haben. Es ist nicht attraktiv, sich in dieser Rolle zu outen, das passt nicht in die Lebensphase des Studiums.»
Viele gingen dadurch an die Belastungsgrenze – und darüber hinaus. Auch Julika Stich versuchte, die Betreuung ihrer Mutter mit dem Studium zu vereinbaren. Mit ihren Kommilitonen gesprochen habe sie darüber nur ganz selten. «Ich war mit ganz anderen Lebenswelten konfrontiert als sie, mit dem Thema Tod, da geht einem die Unbeschwertheit verloren.» Die Überforderung äußerte sich irgendwann körperlich, in Atemnot, Panikattacken und einer Depression.
Abgabefristen und Anwesenheitspflichten
Claudia Batisweiler empfiehlt pflegenden Studierenden, sich möglichst rasch um Unterstützung zu bemühen, «auch wenn es Überwindung kostet». Manchmal funktioniere die Kombination aus Studium und Pflege eine Zeit lang ganz gut, «aber irgendwann wird es zu viel». Man bekommt Probleme mit dem Zeitmanagement, es zeigen sich womöglich Stresssymptome wie Schlafstörungen.
Welche Hilfe möglich ist, hängt vom Einzelfall ab, von den Bedingungen des Studiengangs und von den Vorgaben der jeweiligen Universität. Die Befreiung von Anwesenheitspflichten ist möglich, Abgabefristen können verlängert und Langzeitstudiengebühren erlassen werden. Auch ein Urlaubssemester kann sinnvoll sein.
Ein Pflegegrad erleichtert die Bewilligung von Unterstützung. Für die Verlängerung des Bafögs allerdings ist mindestens Pflegegrad 3 erforderlich. Wenn man in ein Teilzeitstudium wechselt, gibt es kein Bafög mehr.
Dinge tun, die einem guttun
Beratung aus einer Hand für sämtliche Fragen rund um Studium und Pflege wird man kaum finden. Ansprechpartner an den Hochschulen sind die Studien- und die Familienservice-Beratungsstellen. Stellt man bereits konkrete Überlastungssymptome an sich fest, sind die psychosozialen Beratungsstellen ein möglicher Anlaufpunkt. Die Pflegestützpunkte der Kommunen geben Auskunft zur Organisation von Pflege. Auch Beratungsstellen für Betroffene bestimmter Erkrankungen, beispielsweise Alzheimer, können hilfreich sein.
Pflegearbeit, Verantwortung und Sorge nehmen viel Raum ein, die eigenen Bedürfnisse geraten dabei schnell in Vergessenheit. «Es ist aber ganz wichtig, nicht auf die Dinge zu verzichten, die einem gut tun, auf Sport, Musik, soziale Kontakte», sagt Claudia Batisweiler.
Julika Stich hat ihre Ausbildung zur Erzieherin abgeschlossen, ihr Studium der Außerschulischen Bildung dann aber abgebrochen. «Ich hatte ein spannendes Thema für die Bachelor-Arbeit, mir fehlten auch nicht mehr viele Punkte», sagt sie. «Aber mir wurde neben der Belastung durch die Pflege klar, dass ich mich immer wieder im selben Muster wiederfand. Dass es immer wieder darum ging, mich um andere zu kümmern, auch weil ich oft gesagt bekam: Du machst das so gut.» Dieses Muster zu durchbrechen, sei ein wichtiger Entwicklungsschritt gewesen.
«Als junger Mensch Pflegeaufgaben zu übernehmen, kann sehr prägend sein, fürs gesamte Leben», sagt auch Claudia Batisweiler. Für Julika Stich ist es zu einer Lebensaufgabe geworden, junge Menschen zu beraten, die in einer ähnlichen Situation sind wie sie mit der Pflege ihrer Mutter: Sie hat das Netzwerk Young Helping Hands gegründet, eine Anlaufstelle für pflegende Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene – «damit sichtbarer wird, was sie leisten».